Gibt es ADHS bei Säuglingen?

Können Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS schon im Säuglingsalter erkannt werden? Welche Anzeichen haben sie und wie können Eltern reagieren?

Sophia (1) kam zu früh zu Welt und erlitt bei der Geburt einen Sauerstoffmangel. Sie hatte anfangs Trinkschwierigkeiten und schmerzhafte Koliken. Sie schlief wenig, schrie viel und ließ sich kaum trösten. Wesentlich früher als Gleichaltrige begann sie zu krabbeln und zu sprechen.

Im Kindergarten fiel Sophia auf, weil sie kaum stillsitzen konnte, nur kurz bei einem Spiel blieb und selten Regeln einhielt. Sophia war 6 Jahre alt, als bei ihr ADHS (ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) festgestellt wurde. Hätte man dieses Syndrom nicht viel früher erkennen können, aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeiten im Säuglingsalter?

Keine zuverlässige Diagnose von ADHS bei Säuglingen

Die Antwort lautet: Nein! Eine zuverlässige Diagnose kann, ExpertInnen zufolge, frühestens ab dem 6. Lebensjahr gestellt werden.

Nicht jedes quengelige, schwer zu beruhigende Baby hat ADHS und nicht jedes ADHS-Kind zeigte als Baby Verhaltensauffälligkeiten!

Aber bei ca. bei 30% der „Schreibabys“ wird im Schulalter oder im weiteren Lebensverlauf tatsächlich ADHS festgestellt.

Mögliche Anzeichen von ADHS im Säuglingsalter sind:

  • Das Kind scheint über unerschöpfliche Energie zu verfügen
  • Es beruhigt sich im Wachzustand schwer
  • Es leidet unter Koliken und/oder ist ein „Schreibaby“
  • Es zeigt Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen, Gerüchen, Geräuschen, Kleidern
  • Es ist ein „heikler“ Esser
  • Es schläft oft kurz und unruhig
  • Es beginnt früh zu krabbeln
  • Es lässt sich manchmal schwer halten und liebkosen

Wie kommt es zu ADHS?

Ein Sauerstoffmangel, wie bei Sophias Geburt, erhöht das Risiko für ein späteres Auftreten von ADHS.

ADHS wird vererbt, ähnliche Verhaltensmerkmale finden sich meist bei anderen Familienmitgliedern: Sophias Vater war ein sehr unruhiger Säugling und ein unkonzentrierter, undisziplinierter Schüler. Genetisch bedingt bei ADHS sind Besonderheiten in der Gehirnanatomie und im Gehirnstoffwechsel. Diese betreffen u.a. das Frontalhirn, welches Aufmerksamkeit und Impulse steuert, und das Neurotransmittersystem, welches eine wesentliche Rolle bei Lernprozessen spielt.

ADHS ist kein Schicksal.

Nicht nur die genetischen Anlagen, mit denen ein Mensch geboren wird, sondern auch das Umfeld, in dem er aufwächst, bestimmen seine Entwicklung. Erfahrungen und Lernen verändern das Gehirn. Sowohl Aufmerksamkeit als auch der Umgang mit überbordenden Gefühlen und Impulsen können bis zu einem gewissen Maß trainiert werden.

Die Säuglingsforschung geht davon aus, dass bei Babys mit den oben beschriebenen Symptomen Reifungsverzögerungen und Anpassungsstörungen vorliegen. Diese Kinder brauchen besonders feinfühlige Betreuung. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre Bezugspersonen ihre Signale richtig deuten und auf sie eingehen. Wenn sie erleben, dass sie verstanden werden, dass ihre Bedürfnisse liebevoll und zuverlässig erfüllt werden, lernen sie allmählich, sich selbst zu regulieren. Auf diese Weise werden Reifungsprozesse nachgeholt. Wer auf Frühwarnzeichen im Säuglingsalter reagiert, kann Fehlentwicklungen vorbeugen!

Herausforderung für Eltern

Keine einfache Aufgabe für Eltern! Die Betreuung des Säuglings kann zur seelischen Belastungsprobe werden, wenn dieser sich nicht trösten lässt, wenn schlaflose Nächte, rastlose Tage zur körperlichen und psychischen Erschöpfung führen. Oft stellen sich Selbstzweifel und Schuldgefühle ein, es kommt zu einem Teufelskreislauf: Der Säugling fühlt die zunehmende Unsicherheit und Gereiztheit der Mutter und des Vaters und reagiert mit verstärkter Unruhe.

Dass Eltern an ihre Grenzen stoßen, ist kein Verschulden ihrerseits, sondern die Folge äußerst belastender Umstände. ExpertInnen empfehlen, beizeiten professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei es in einer Schreiambulanz, einem Frühförderzentrum, einer Erziehungsberatungsstelle oder einem sozialpädiatrischem Zentrum. Dort lässt sich klären, was dem Säugling fehlt und die Eltern werden beim Aufbau einer sicheren, tragfähigen Beziehung zu ihrem Kind unterstützt, die es ihm erlaubt, seine Reifungsverzögerung aufzuholen. So wird der Entwicklung von ausgeprägten ADHS-Symptomen in späteren Jahren entgegenwirkt.

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