Mehrsprachigkeit: Wie finden Kinder ihre Identität?
Bilinguale Kinder sind oftmals auch bikulturell, ihre Begegnung mit sprachlicher und kultureller Vielfalt beeinflusst die Entwicklung ihrer Identität auf vielen Ebenen.
„Welcher Nationalität bzw. welcher Kulturgemeinschaft wird sich mein Kind zugehörig fühlen?“
In den Workshops und Beratungen, die ich für Eltern sowie Pädagoginnen und Pädagogen zum Thema mehrsprachige Erziehung anbiete, wird diese Frage immer wieder gestellt. Oft ist sie Ausdruck von Sorge, verbunden mit dem Wunsch der Eltern nach Weitergabe der eigenen Herkunftskultur: „Ich will, dass meine Tochter sich als Mexikanerin fühlt“, berichtet mir eine Mutter in einem der Workshops. „Wird mein Kind die russische Kultur annehmen?“, fragt mich ein Vater. „Ich will, dass meine Tochter sich auch als Österreicherin wahrnimmt“, meint eine andere Mutter.
Es ist eine durchaus berechtigte Sorge, die aus solchen Kundgaben spricht, denn Sprache ist das wichtigste Vehikel für die Weitergabe kultureller Identität, und das Maß, in dem sie gelebt oder eben nicht gelebt wird, hat wesentlichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und die kulturelle Orientierung des Kindes. Das heißt natürlich zugleich, dass Kinder, die mit mehreren Sprachen und Kulturen aufwachsen, eine besonders komplexe und reiche sprachlich-kulturelle Identität entwickeln.
Mehrsprachigkeit: Wo fühle ich mich zugehörig?
Wie komplex die Identität eines Menschen ist, der in mehreren Kulturen und Sprachen lebt, erkennt man an der Schwierigkeit, folgende scheinbar einfache Frage zu beantworten: „Woher kommst du?“ Wenn ich darauf selbst eine Antwort gebe, muss ich ausholen, muss fast meine Lebensgeschichte erzählen. Und trotzdem kommen weitere Fragen auf. „Aber, wenn du in Bulgarien geboren und in Österreich aufgewachsen bist, warum sprichst du so gut Spanisch?“, heißt es dann. Es ist nicht einfach, in wenigen Sätzen eine komplexe, oft aus unübersehbar vielen Komponenten zusammengesetzte Identität zu beschreiben.
Manche Menschen brauchen Jahre, um sich ihrer eigenen Identität bewusst zu werden und sich selbst eine Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich und wo gehöre ich hin?‘ geben zu können.
Heterogene Identität – mehr Bereicherung als Belastung
Ein Konzept, das das kulturelle und Identitäten-Puzzle gut beschreibt, ist das der heterogenen Identität. Es geht für den jungen Menschen dabei nicht darum, Fremdes und Eigenes rein additiv nebeneinander zu stellen, sondern darum, unterschiedliche Lebensentwürfe, Normen und Werte mehrerer Kulturen in sich zu vereinen. Diese können sogar in sich widersprüchlich sein. Der bikulturelle Mensch findet sich in der Dimension des Wandels. Diese Kinder und Jugendlichen entwickeln ihre Identität, indem sie die Gleichzeitigkeit und das Kommunizieren von zwei oder sogar mehr Kulturen im eigenen Selbstentwurf zulassen. Zu oft wird ihnen eine innere Zerrissenheit zugeschrieben. Jedoch ergibt sich vielmehr eine Bereicherung als eine Belastung, darüber sind sich Erziehungswissenschaftler und Soziologen einig. Allerdings ist die erworbene Identität nichts Statisches und Einheitliches, sondern sie ist im ständigen Wandel und definiert sich immer wieder aufs Neue. Übrigens so wie bei jedem anderen Menschen auch, denn Identitäten sind immer in Bewegung.
„Der Zugang und die Art, wie die jeweiligen Kulturen gelebt werden, sind individuell.“
Die dritte Kultur
Als faszinierend und schön empfinde ich die Identitätsbildung meiner eigenen Kinder, die in drei Kulturen aufwachsen. Im Erfahrungsaustausch mit den Eltern, die den Weg zu mir in die Beratung finden, erlebe ich es auch mit deren Kindern. Sie entwickeln eine natürliche Beziehung zu beiden Kulturen, jedoch lassen sie sich von keiner völlig vereinnahmen. Vielmehr entsteht eine Durchmischung der unterschiedlichen kulturellen Konzepte. Manche Teile des Puzzles sind größer, manche kleiner, manche bunter, andere einheitlicher. Denn der Zugang und die Art, wie die jeweiligen Kulturen gelebt werden, sind individuell. Es hängt vom Kind ab, von dessen Eltern und davon, was die Gesellschaft dazu beiträgt. Daraus ergibt sich etwas Drittes, etwas Neues, die sogenannte Third Culture. Deshalb werden diese Kinder auch Third Culture Kids genannt.
Das Prestige der Herkunft
Welche Antwort sich Third Culture Kids auf die Frage „Wer bin ich und wo gehöre ich hin?“ geben, hängt auch davon ab, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen und behandelt werden. Während Kinder es interessant finden können, ein Kind aus Schweden in der Kindergartengruppe zu haben, sieht es bei einem Kind aus Rumänien oder der Türkei vielleicht anders aus. Warum? Weil Sprachen und Kulturen in der Mehrheitsgesellschaft ein unterschiedliches Prestige haben. Manche sind prestigeträchtig, andere genau das Gegenteil. Die Sprecher leiden unter dem niedrigen Prestige. Vor allem hat es Einfluss auf das Selbstwertgefühl des Kindes. Deshalb sollten Eltern sich nicht den Kopf zerbrechen, zu welcher Nationalität sich ihr Sprössling zugehörig fühlen soll.
Vielmehr geht es darum, ihm stets das Gefühl zu vermitteln, dass alle Kulturen und Sprachen, die zu seinem Leben gehören, wertvoll sind und wert, gesprochen und gelebt zu werden.
Nur durch dieses positive Gefühl kann Zugehörigkeit entstehen.
Der Einfluss der Gruppe
Wir Erwachsenen wollen individuell sein, uns von anderen abheben. Kinder aber wollen zu einer Gruppe dazugehören und an deren „Spielregeln“ partizipieren. Der Einzige zu sein, der anders ist, zum Beispiel mit zwei Sprachen aufwächst, gefällt Kindern nicht.
Vielleicht ist ein Teil der Gruppe sogar selbst bilingual. Warum kommt es trotzdem zur Ablehnung? Weil die gesellschaftlich geprägte Norm eine andere ist – eine monolinguale. Das Vorbild der Umgebung wird durch Autoritätspersonen, wie zum Beispiel Pädagogen, subtil gefestigt und bestätigt. Aber natürlich können genau diese Personen das Bild, wie ein Kind sein soll, verändern. Zum Beispiel indem sie signalisieren, dass Mehrsprachigkeit etwas Wünschenswertes ist.
Auch Eltern können solche gesellschaftlichen Bilder aufgreifen und für die Kinder in Frage stellen. Noch wichtiger ist, sie zu stärken und ihnen zu zeigen, dass es auch andere soziale und sprachlich-kulturelle Praxen gibt, die wertvoll sind. Nur ein Kind, das von der Familie gestärkt wird, zweisprachig und bikulturell zu sein, kann diese Eigenschaften als positiv erleben. Seien Sie sich dieser Verantwortung bewusst, denn oft passieren Handlungen unbewusst und können Kindern schaden; zum Beispiel, wenn Eltern in der Öffentlichkeit lieber Deutsch mit ihren Kindern sprechen anstatt ihre Herkunftssprache.
Sprache – der Weg zum Selbst
Werden die kulturellen Wurzeln und die Erstsprachen der Eltern wahrgenommen und beim Kind gefördert, erfolgt eine positive Prägung, die sich langfristig sehr gut auf die kindliche Gesamtentwicklung auswirkt und neue Identitätsprozesse in Gang setzt. Andererseits sind zweisprachige Kinder auch nicht immer bikulturell. Damit das passiert, müssen die Kinder ausreichenden Zugang zur anderen Kultur haben und diese als etwas Gutes erleben, und ohne Vorurteile. Der beste Weg, diesen Zugang zu schaffen, ist es die eigene Sprache weiterzugeben. Wenn wir Kinder in ihrer Mehrsprachigkeit fördern, fördern wie sie gleichzeitig darin, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und ihre Identität zu finden.
Mit ihrem spezifischen Rhythmus und Klang erleben Kinder von Beginn ihres Lebens die Sprache oder Sprachen der Eltern als etwas Vertrautes. Die ersten Erfahrungen des Kindes mit den Eltern machen somit diese Sprache zur eigenen Sprache, die mit den Gefühlen von Geborgenheit, Sicherheit und Liebe verbunden ist. Über die Sprache entstehen die ersten Erfahrungen zur gemeinsamen Verständigung und zum Aufbau einer der wichtigsten Bindungen im Leben des Kindes, der Bindung zu seinen Eltern. Somit ist die Sprache der Eltern stark emotional behaftet. Und, wie anfangs bereits erklärt, werden mit der eigenen Muttersprache auch die elterliche Kultur, soziale Normen und Werte weitergegeben. Sie ist also in mehrerlei Beziehung von zentraler Bedeutung im Aufbau kindlicher Identität.