Starke Gefühle liebevoll begleiten
„Gocka?“ (=„Oma“). Meine Tochter, 1,5 Jahre, schaut mich auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause erwartungsvoll aus dem Kinderwagen an, als wir am Haus meiner Eltern vorbeispazieren. Doch sobald ich den Schlüssel in unser Schloss stecke, ist klar: Wir gehen jetzt nicht zu Oma und Opa, sondern nach Hause.
Wut überkommt sie. Kaum aus dem Kinderwagen raus, lässt sie sich im Vorraum wütend zu Boden fallen und beginnt, um sich zu treten, lässt sich weder ausziehen noch anfassen.
Du bist gut, so wie du bist
Ich setze mich dann meistens neben sie auf den Boden, bin da und warte. Es nützt nichts, mit ihr zu reden, ihr etwas zu erklären – ihr kleines „Systemchen“ wird gerade von ihren Gefühlen überschwemmt. Ich konzentriere mich darauf, bei mir zu bleiben, Ruhe auszustrahlen, Sicherheit, und das Gefühl:
„Du bist gut, so wie du bist. Deine Wut ist gut, so wie sie ist. Sie darf da sein. Ich halte das jetzt mit dir aus.“
Das ist wahnsinnig schwer, das weiß ich nicht nur aus fachlicher, psychologischer und neurobiologischer Sicht, sondern vor allem auch als Mama. Auch mir gelingt es nicht immer, und das ist gut so. – Kinder brauchen Eltern, die menschlich sind. Aber auch Eltern, die die Verantwortung für sich und ihre Gefühlswelt übernehmen, die sich entschuldigen, wenn sie so gehandelt haben, wie sie nicht handeln wollten, und die gemeinsam mit ihren Kindern wachsen.
Selbst ruhig bleiben …
Denn die gute Nachricht ist: Dieses ruhig-bleiben kann man lernen und vor allem üben. Es gibt verschiedene Techniken oder Ansätze dafür, von Atemübungen, über Achtsamkeitstraining, in die Körperwahrnehmung gehen, bis hin zu laut lossingen. Was für einen am besten funktioniert, muss man manchmal ein bisschen austesten.
Wenn es uns gelingt, selbst ruhig zu bleiben, helfen wir unserem Kind am allerbesten dabei, sich zu beruhigen. Unsere Spiegelneuronen und die unseres Kindes sind aufeinander „eingegroovt“, wir übernehmen leicht die Stimmung des jeweils anderen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn wir Stress haben, hat unser Kind Stress. Wenn wir ruhig sind, kann sich auch das System unseres Kindes leichter beruhigen.
Dem im Wege stehen allerdings oft schmerzliche Erfahrungen, die wir selbst als Kind gemacht haben. Dieser alte Schmerz schleicht sich dann oft durch die Hintertür in unser System, während unser Kind einen Wut- oder Willensanfall hat, oder auch sehr, sehr traurig ist. Wir fühlen uns dann provoziert, manipuliert oder persönlich angegriffen, fühlen uns nicht gesehen. Jetzt haben wir so viel Zeit und Liebe investiert, um einen schönen Ausflug zu planen und unser Kind bekommt ausgerechnet dann einen Wutanfall!
Das sind aber alles Gedanken, die in uns passieren und durch das Verhalten unseres Kindes getriggert werden. Sie sagen vielmehr über uns aus, als über unser Kind. Auf dieser Basis nutzt leider oft auch die beste Atemübung nichts, weil das Verhalten unseres Kindes immer wieder etwas in uns antriggert. In dem Moment, in dem wir dann selbst schreien, schimpfen, wütend werden… sind wir nicht mehr bei unserem kleinen Kind, das von seinen Gefühlen überschwemmt wird, und nichts dagegen tun kann. Wir gehen aus dem Kontakt, aus der Beziehung. Wir können nicht mehr für unser Kind da sein, weil wir so mit uns selbst und unserem „Ego“ beschäftigt sind.
Bei der Begleitung starker Gefühle geht es also einerseits um das Bewusstwerden des eigenen Anteils und darum, wie ihr euer Kind gut begleiten könnt. Denn wenn es uns gelingt, unseres zur Seite zu stellen und stattdessen unser Kind anzusehen, dann sehen wir ein kleines Wesen, das einfach wahnsinnig überfordert ist, das seine Gefühle noch nicht anders zeigen kann, das überschwemmt wird von Emotionen. Es ist nicht absichtlich wütend, um uns zu ärgern. Es hat sich den Zeitpunkt nicht absichtlich ausgesucht. Gefühle sind nicht planbar.
Wenn ich hineinspüre in meine Tochter in ihren nachmittäglichen Wutanfällen, dann spüre ich: „Mama, mir ist das gerade alles zu viel. Den ganzen Tag habe ich im Kindergarten überall mitgemacht, das gemacht, was von mir erwartet wurde und jetzt, jetzt bricht alles aus mir heraus. Mama, ich weiß selbst nicht, was los ist.“ All die Eindrücke und Emotionen, vielleicht auch Momente, in denen sie sich im Kindergarten nicht gesehen gefühlt hat, aber auch all die schönen Eindrücke dort, all die Emotionen, all das sucht sich seinen Weg raus und entlädt sich in diesen starken Gefühlen. Es überschwemmt ihr kindliches System. Ein System, das noch keine Frustrationstoleranz und keine Selbstregulation kennt.
Nachdem sie mal „alles rauslassen konnte“, mache ich ihr immer wieder das Angebot, sie in den Arm zu nehmen. Wenn sie noch zu wütend ist, schiebt sie mich weg – das respektiere ich voll und ganz. Wenn ich wütend bin, will ich auch nicht umarmt werden, sondern einfach wütend sein und ein bisschen Verständnis für meine Wut bekommen.
Das Gewitter zieht vorüber
Aber ab einem gewissen Zeitpunkt, wenn die ärgste Wut verflogen ist, schmiegt sie sich ganz eng an mich. Ich tröste sie, streichle ihr über den Rücken, spreche beruhigende Worte. Manchmal helfe ich ihr beim Verbalisieren, was gerade passiert ist („Ja gell, du vermisst die Oma. Das ist immer so schön bei ihr.“, „Ich sehe, das war jetzt ganz schlimm für dich, du warst ganz wütend und traurig.“). Es dauert vielleicht 15 Sekunden, dann schaut sie mich mit strahlenden Augen an und sagt „Buch?“ oder „Milch?“. Dann ist das Gewitter vorüber. Und mein Kind wie ausgewechselt.
Das kindliche System funktioniert anders als unseres.
Es hat noch wenig Selbstregulationsmechanismen zur Verfügung, zudem gilt bei Kindern aus neurobiologischen Gründen immer das Prinzip „Emotion vor Kognition“. Oft brauchen gerade kleinere Kinder einfach unsere Nähe (Bedürfnis nach Nähe), gesehen werden, dass wir das Bedürfnis hinter den starken Gefühlen sehen und anerkennen. Wenn das Gefühl einmal so richtig da ist, brauchen sie uns vor allem als Stütze: da sein, aushalten, liebhaben, ihnen (danach – in Ruhe) helfen, Worte dafür zu finden, was gerade passiert ist.
Bei etwas größeren Kindern geht es zudem darum, alternative Verhaltensweisen, adäquate Kanäle, für ihre starken Gefühle zu finden.
Nicht das Gefühl soll weg, denn Gefühle sind ganz wichtig, sondern die Art und Weise, wie dieses Gefühl gelebt wird, soll optimiert werden.
Aggression gegenüber anderen ist kein adäquater Kanal, in den Boxsack boxen, Luft schnappen, Hampelmänner machen… schon. Diesen Umgang lernen sie einerseits an uns (Vorbildwirkung), andererseits auch in Gesprächen, gemeinsamen überlegen und reflektieren, try-and-error-Versuchen, Geduld, Wertschätzung und Dialog. Die Botschaft, die wir unserem Kind damit geben, ist eine wunderschöne:
„Du darfst deine Gefühle leben. Deine Gefühle sind richtig und wichtig. Du bist genau richtig, wie du bist.“ Die wertvollste Botschaft, die wir Kindern mitgeben können.