Unterstützung und Wertschätzung - auch wenn es schwer fällt
Gerne lesen wir von Themen, die uns als Familie aufbauen, uns Mut machen und vielleicht den einen oder anderen Anstoß geben können, etwas auszuprobieren, oder uns den einen oder anderen Tipp übernehmen lassen.
Was wir lieber nicht hören wollen ist das, was schief gegangen ist, was kein gutes Ende genommen hat und wo jede Hilfe zu spät gekommen ist.
Und trotzdem denke ich, dass wir es uns zumuten sollen, auch diese „Geschichten“, die im Grunde bei jeder Familie zutreffen können, anzusehen. Im Folgenden möchte ich die Geschichte eines Jungen erzählen, der es in seiner Familie schwer hatte. Es kann auch in den besten Familien und mit intensiven, liebevollen Bemühungen vorkommen, dass ein Kind „seinen Weg“ nicht findet oder, wie in einem mir bekannten Fall, selbst entscheidet, aus dem Leben zu scheiden. Diese Tragödien schmerzen die Hinterbliebenen unbeschreiblich, das Umfeld beginnt sich vielleicht selbst das erste Mal die Frage zu stellen, ob man vielleicht hätte helfen können, als es noch nicht zu spät war.
Die Nachricht
Wir waren als Familie gerade drei Tage auf einem Kurzurlaub und verbrachten eine wirklich schöne Zeit, als mein Mann - er ist Lehrer - kurz auf sein Handy schaute, still wurde und sagte: "Marco, einer meiner Schüler vom letzten Jahrgang ist verstorben." Ich wusste sofort, wen er meinte. Wir hatten öfters über ihn gesprochen, denn es war unglaublich, was dieser Junge bereits in seinem Alter an Schwerem hatte durchmachen müssen. Nun war er gerade einmal achtzehn Jahre alt geworden und gestorben - an einer Überdosis an Drogen.
Die ersten Fragen, die uns durch den Kopf gingen waren: Hatten wir, als er noch in der Schule war und wir den Zugang zu ihm hatten, genug getan? Wurde Marco genug unterstützt, oder hatte man ihn womöglich entmutigt, ihm den letzten Funken an Selbstwert geraubt? Waren die Ohren offen ihm gegenüber, war die Tür für einen Neuanfang immer geöffnet, oder hatten wir ihn bereits abgestempelt als Versager, der es sowieso nie schaffen würde?
Hatten wir auch Mitschuld an seinem Scheitern, mussten wir uns Vorwürfe machen?
Er war kein einfacher Schüler gewesen, doch er suchte immer wieder das Gute, er war herzlich, er kämpfte gegen seine Schwächen an, schaffte es dann aber oft doch nicht. Sein Verhalten war eine Herausforderung für seine Umgebung, er provozierte, arbeitete dann aber wieder hart an sich. Marco wollte es schaffen, sein Wille zum Guten war stark. Doch nun war er tot.
Sehr wenige seiner ehemaligen Lehrer, einige Mitschüler und sehr viele aus der Ortschaft standen nun, einige Tage später, an seinem Sarg in der Kirche. Sehr viele fassungslos, aber auch einige, die meinten, schon geahnt zu haben, dass es mit dem Jungen kein gutes Ende nehmen würde.
Warum schreibe ich diese Zeilen?
Ich denke, wir Erwachsene und vor allem jene, die mit Kindern und Jugendlichen beruflich arbeiten, haben eine enorme Verantwortung ihnen gegenüber. Besonders jene, die aus zerbrochenen Familien kommen, die es von Klein an schwer haben, bedürfen unseres besonderen Schutzes und benötigen unsere volle Unterstützung, egal wie herausfordernd sie sich uns gegenüber verhalten, denn dieses Verhalten ist ein Schrei nach Hilfe, eine Bitte um Anerkennung. Sie wollen gesehen und gehört, akzeptiert und geliebt sein, auch wenn ihr aktuelles Verhalten von fast allen Seiten das Gegenteil hervorruft. (Natürlich darf an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden, dass Kinder und Jugendliche auch lernen müssen, die Grenzen der Erwachsenen zu akzeptieren sowie sich an Regeln und Normen zu halten).
Oft sind wir uns dieser enormen Verantwortung, die wir haben, wenn wir mit Kindern arbeiten, nicht bewusst. Wir können die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen fördern, sie aufbauen, sie unterstützen und mithelfen, aus ihnen wunderbare, starke, liebenswürdige Erwachsene zu formen, die selbst denken, andere wertschätzen und das Gute suchen, indem wir das Beste aus ihnen herausholen.
Wir können sie aber auch zerstören, ihnen den letzten Funken an Selbstwert und Selbstachtung nehmen, sie brechen und aus ihnen verstörte, ängstliche und schwache, manipulierbare Erwachsene machen.
Dieser Umstand ist uns leider nicht immer bewusst.
Ich arbeite als Psychologin mit Kindern und deren Eltern in schwierigen Lebenssituationen. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit habe ich es mir angewohnt, mir jeden Tag die Frage zu stellen: „Kann ich heute, nach meiner Arbeit in den Spiegel sehen und zu mir selbst sagen, dass ich jedem die Wertschätzung zukommen habe lassen, die er/sie verdient? Muss ich mir vorwerfen, jemanden ungerecht behandelt zu haben, oder habe ich jemanden verletzt? Hätte ich mehr für sie/ihn tun können, habe ich vielleicht etwas Wichtiges aus Bequemlichkeit unterlassen?“
Es muss auch möglich sein, dass ich mich im Nachhinein für das Eine oder Andere, das nicht richtig war, beim Betroffenen entschuldigen kann. Denn wenn ich möchte, dass die uns für eine Zeit lang anvertrauten Kinder lernen, Verantwortung für deren Handeln zu übernehmen, dann muss ich bei mir selbst anfangen, auch in dem Wissen, dass es so, wie im Fall von Marco, auch einmal zu spät sein kann.