Wie sichere Bindung Kinder stark macht
Was braucht ein Kind, um gesund heranzuwachsen? Was ist am Anfang besonders wichtig? Wie kann man eine liebevolle und stabile Beziehung zu seinem Kind aufbauen? Eine der entscheidenden Aufgaben der Eltern ist, eine sichere Bindung zum Kind aufzubauen, die es lebenslang trägt.
Jonas ist mit seiner Mama am Spielplatz und spielt in der Sandkiste. Freudig krabbelt er zur anderen Ecke, wo ein kleiner Bagger steht mit dem er spielen möchte. Da kommt das kleine Mädchen zurück, dem der Bagger gehört und nimmt den Bagger vor Jonas‘ Nase weg. Jonas, der gerade noch begeistert war, ist erschrocken. Er dreht sich um, streckt die Ärmchen aus und ruft ängstlich nach seiner Mama. Diese nimmt ihn kurz auf den Arm, tröstet Jonas und sagt, „Oh, jetzt hast du dich erschrocken!“ Jonas gewinnt schnell wieder Zuversicht und möchte vom Arm herunter um wieder weiter im Sand zu spielen.
Zuwendung so wichtig wie Ernährung
Das erste und bedeutendste Geschenk, das Eltern einem Baby machen können, ist das Gefühl, dass es bei ihnen sicher und geborgen ist.
Bindung ist der Fachausdruck für dieses Phänomen der frühen Beziehung zwischen Kind und Eltern.
Kinder, die eine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen aufbauen können, sind damit fürs ganze Leben reich beschenkt und gestärkt.
Die „sichere Bindung“ ist für Karl Heinz Brisch, einem Münchner Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, der sich intensiv mit dem Thema Bindung beschäftigt und viele Forschungen in diesem Bereich durchgeführt hat, das Fundament, auf dem alles aufbaut. Sie sei der Anfang eines erfüllten, glücklichen Lebens – und elementarer als jede Frühförderung. Wenn die Bindung sicher sei, sagt Brisch, dann komme der Rest von allein. Sie stellt einen ganz besonderen Schutzfaktor für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Gesundheit des Kindes dar.
Zuwendung und Fürsorge sind für die gesunde Entwicklung eines Säuglings genauso wichtig wie die richtige Körperpflege oder Ernährung.
Doch wie entsteht diese sichere Bindung, und was können Eltern dazu beitragen?
Balance zwischen Bindung und Neugier
Kinder haben zwei Grundbedürfnisse: Zum einem das Bedürfnis nach Nähe, Sicherheit, Liebe und Geborgenheit (Bindung), zum anderen wollen sie die Welt erkunden, autonom und kompetent sein. Eltern sind dabei die sichere Basis, die „Tankstelle“, bei der das Kind in emotionalen Situationen wieder „auftanken“ kann, um dann wieder zum Erforschen und Entdecken der Welt aufzubrechen. Das werdet ihr vielleicht auch schon beobachtet haben.
An der „Tankstelle“ holen sich Kinder Trost und Nähe, Ermutigung und Anregung. Diese sichere Basis hat die anspruchsvolle Aufgabe, feinfühlig zu sein, d.h. die Signale des Kindes wahrzunehmen, diese richtig zu interpretieren und darauf schnell und angemessen zu reagieren. Feinfühlige Eltern überlegen, wie sie die Signale des Kindes z.B. das Weinen, interpretieren.
Sicherheit geben
Wie sicher ein Kind gebunden ist, hängt entscheidend davon ab, wie feinfühlig seine Eltern auf seine Bedürfnisse eingehen. Das heißt, wie angemessen, zuverlässig und prompt sie auf seine Signale reagieren. Ein sicher gebundenes Baby hat über das erste Lebensjahr hinweg die Erfahrung gemacht, dass es eine oder auch mehrere Personen in seinem Leben gibt, die seine Bedürfnisse zuverlässig erfüllen. Es entwickelt ein Grundvertrauen in diese Personen und weiß, dass es sich bei ihnen Trost und Zuwendung holen kann.
Wie ihr wisst, brauchen Babys, wenn sie noch klein sind, besonders viel Wärme, Schutz und Nähe. Sie wollen getragen, geschaukelt, gestreichelt und gefüttert werden, aber auch in Kontakt sein und Anregungen bekommen. Wenn sie größer werden, wollen sie die Welt erkunden.
Schon in der Phase, in der das Baby anfängt, auf dem Fußboden zu krabbeln und alle Gegenstände in der Umgebung zu untersuchen, will es nach dem Erforschen der Welt immer wieder zurückkehren und auftanken.
Auch später, wenn das Kind die ersten Schritte geht, dabei hinfällt oder unsicher wird, sucht es immer wieder die Basis.
Die Entwicklung des Kindes gelingt dann, wenn die Balance zwischen Bindung und Neugier stimmt. Eine sichere Bindung zeigt sich daran, dass das Kind fähig ist, den Erwachsenen sowohl als Trostquelle zu nutzen, wenn es unglücklich ist, als auch als „sichere Basis“ zur Erkundung seiner Welt, wenn es entspannt und ausgeglichen ist. Ein sicher gebundenes Kind spielt und erkundet seine Umwelt freudig und vertrauensvoll, wenn seine Bezugsperson anwesend ist.
Zwischen Bindung und Bildung besteht ein klarer Zusammenhang. Fühlt sich euer Kind in der Beziehung zu euch aufgehoben, kann es seine Neugier entfalten und die Welt kennenlernen. Für die frühe Förderung kommt es nicht auf die Menge der Lernanreize an, die ihr eurem Kind bietet, sondern darauf, dass das Kind sicher an euch gebunden ist.
Sicher in die Welt hinausgehen
Auch Jonas hat erlebt, dass seine Mama immer zur Verfügung steht, wie in der Situation in der Sandkiste. Er weiß, dass sie ihn unterstützt, ermutigt und dabei hilft, seine Gefühle zu regulieren. Er fühlt sich bei ihr geborgen und gut aufgehoben, damit entsteht ein tiefes Grundvertrauen. Jonas hat eine sichere Bindung entwickelt, er trägt das Grundgefühl der Sicherheit gewissermaßen in sich und nimmt dies ins Leben hinaus mit.
Die Forderung nach steter Präsenz und Einfühlung würde uns alle unter Druck setzen. Es kommt auf die Haltung an: Seid bereit, euch auf die Signale eures Babys einzulassen und als sichere Basis da.
Habt keine Angst davor, eure Kinder zu verwöhnen oder es dabei zu hindern, selbständig zu werden, wenn ihr auf die Bedürfnisse eures Kindes reagiert. Im Gegenteil, Kinder, die im ersten Lebensjahr feinfühlig versorgt werden, erweitern im Laufe der nächsten Jahre ihren Entdeckungsradius immer mehr. Denn sie haben gelernt, dass sie einen sicheren Hafen haben, in den sie zurückkehren können. Auch später gehen sicher gebundene Kinder flexibler mit Herausforderungen, Belastungen und Konflikten um. Sie haben mehr Freude am Lernen und kommen mit ihren Altersgenossen besser zurecht.
Worauf es im ersten Lebensjahr ankommt
- Nehmt euch Zeit, euer Baby zu beobachten und sich in seine Gefühle einzufinden.
- Tröstet euer Baby zuverlässig und sofort jedes Mal, wenn es weint.
- Unterstützt euer Baby in unbekannten oder schwierigen Situationen und vermittelt ihm Sicherheit und Geborgenheit.
- Fördert seine natürliche Neugierde und seinen Erkundungsdrang.
- Wenn ihr selbst nicht da sind, sorgt dafür, dass sich eine vertraute Person um euer Baby ebenso liebevoll kümmert.