Aus dem Tagebuch: Plötzlich zu Viert - Gefühlschaos im Wochenbett
Es war wie gestern als ich den zweiten Strich auf meinem Schwangerschaftstest gesehen habe und mein Herz plötzlich angefangen hat zu rasen, als hätte ich im Lotto gewonnen. Es war sogar viel mehr als ein Lottosechser. Es war mein persönliches Glück, mein Erfolg. Ein Wunder und eine wunderschöne Zeit, die auf mich zukam… Und einen Wimpernschlag später warst du schon da. In meinem Arm…
Ein kleines, wunderschönes und gesundes Mädchen
Unsere Tochter. Ich konnte mich nicht satt sehen - du warst einfach perfekt. Diese kleinen Fingerchen, die meinen Daumen fest umklammerten. Große neugierige Augen, die mein Gesicht genau studiert haben. Zarte, kurze Haare auf deinem kleinen runden Kopf. Ich war sofort verliebt. “Sie sieht genauso wie ihr Bruder aus,” waren die ersten Worte von mir und meinem Mann als wir unsere Tochter zum ersten Mal gesehen haben. Sie sah tatsächlich so aus: diese Augen, der Mund und kleine Bäckchen… Trotzdem war sie anders. Immer hungrig und so laut. Das war der große Bruder als Baby nie. Er hat kaum geweint und trank wenig, dafür oft. Unsere kleine Maus trank viel und oft. Gefühlt dauernd wollte sie gestillt werden und sie begann damit unmittelbar nach dem Kaiserschnitt - noch im OP-Saal…
Hallo, du kleines Wunder
Da war sie also. In meinem Arm und ich konnte nicht glücklicher sein. Wobei eine Sache hat das ganze Glück doch ein wenig getrübt. Der große Bruder durfte uns im Krankenhaus nicht besuchen und weil ich nach einem Kaiserschnitt war, musste ich volle 5 Tage ohne meinen Sohn sein. Ich habe ihn so furchtbar vermisst, ich dachte mein Herz wird es in Stücke reißen. Aber zum Glück hatte ich unsere kleine Tochter bei mir und zählte die Sekunden bis zu dem Tag, an dem ich sie unserem Sohn vorstellen konnte.
Die Kleine kam an einem wunderschönen und warmen Dienstag zur Welt. Draußen schien die Sonne und mittags war sie dann da. Die Stunden danach verliefen so schnell und ich war wie benebelt. Vor Glück, vor Schmerzen und vor der ganzen Aufregung. Die Tage danach verbrachte ich mit Stillen, wickeln, umziehen, wiegen und mich selbst pflegen. Ich wollte am Freitag endlich nach Hause, aber da es mit dem Zunehmen nicht so gut lief, wollte mich die Kinderärztin vor Ort doch noch einen Tag länger im Krankenhaus behalten. Eine Nacht mehr und sie war kaum auszuhalten. Doch der lang ersehnte Tag ist schließlich doch noch gekommen. Wir durften nach Hause…
Wer ist denn der Große da?
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich jemals so schnell meine Sachen gepackt habe, wie an diesem Samstag. Kurz nach der Visite habe ich mich trotz Schmerzen schnell umgezogen, alles eingepackt und ich wartete ungeduldig auf meinen Mann. Als wir später im Auto saßen und uns weniger als 10 Minuten von unserem Zuhause trennten, war ich schon so gespannt, wie uns unser Sohn empfangen wird.
Wie wird er auf mich reagieren und wie wird er seine Schwester finden?
Es war ein besonderer Moment. Ich kam rein und kaum hab ich ihn gesehen, musste ich weinen. Endlich. Nach 5 Tagen habe ich ihn in mein Arm nehmen dürfen, seine Haare riechen, sein Gesicht küssen können. Und ich war überrascht wie groß er war. Ich habe meinen kleinen Buben verabschiedet, als ich ins Krankenhaus ging und 5 Tage später habe ich einen großen Jungen vorgefunden. In meinen Augen hat er sich so verändert. Er war nun ein großer Bruder und kein Baby mehr.
Berührungsängste und der normale Alltag
Ganz schüchtern und vorsichtig schaute er in die Babyschale und bestaunte seine kleine Schwester. “Sie gefällt mir,” sagte er ganz nüchtern. Er schaute sie noch wenige Minuten an und grinste dabei ganz glücklich. Sie hat geschlafen und er traute sich nicht sie anzufassen. Er hat sie den ganzen Tag nicht angefasst. Anfangs dachte ich, er hätte Angst. Erst später habe ich verstanden, dass er von seinen Gefühlen so überrollt wurde, dass ihm der Anblick erstmal reichte. Als er sie zum ersten Mal ganz zart und vorsichtig an der Hand gestreichelt hat, hat er dabei kaum geatmet. Er sah sie ganz ernst und liebevoll an, streichelte ganz kurz über ihre Finger und zog dann schnell seine Hand weg.
Es war vorerst genug
Aber es wurde immer mehr. Paar Tage später lag er da, schaute sie an und hielt ihre Hand. Diese Momente waren für ihn immer etwas besonderes. Er war ganz ruhig und absolut auf sie fokussiert. Außerhalb dieser Momente ging aber der Alltag völlig normal weiter. Der große Bruder spielte, tobte, lachte, lief und machte all das, war er früher gemacht hat. Und weil das Baby noch viel schlief und ich mich nicht besonders viel bewegen konnte, verbrachte er viel Zeit mit mir auf dem Boden. Wir spielten Autos, bauten Lego oder Puzzles zusammen… Wir lebten in unserer kleinen Welt.
Viele Tränen und ein schlechtes Gewissen
Im ersten Monat haben wir uns von der Außenwelt komplett isoliert. Keine Besuche, keine neugierige Verwandtschaft und das war auch gut so. Manche könnten es als egoistisch abstempeln. Ich konnte mir in der Zeit nicht vorstellen, jemanden zu sehen - so sehr war ich mit meinen Gefühlen und meinen Kindern beschäftigt. Sonst bin ich eine Frau voller Tatendrang. Damals war ich wie gelähmt, überfordert schon mit Kleinigkeiten. Und sehr nah am Wasser gebaut.
Jeden Abend, wenn der Große schlief, habe ich einen Wasserfall geweint. Weil ich schlechtes Gewissen meinem Sohn gegenüber hatte. Ich war immer nur für ihn da und plötzlich war dieses Baby da und ich habe es so sehr geliebt wie ihn. Aber ich wusste nicht, ob er es verstanden hat, dass ich ihn noch immer so sehr liebe. Also habe ich geweint. Und dann war noch das schlechte Gewissen dem Baby gegenüber da. Weil ich mir dachte, dass ich mich noch mehr über seine Geburt freuen sollte und statt dessen habe ich mich damit beschäftigt, schlechtes Gewissen zu haben. Außerdem musste ich in den ersten vier Wochen unser Familienbett verlassen, weil das Baby oft nachts laut war und meinen Sohn weckte.
Da hatte ich noch mehr schlechtes Gewissen, dass ich nachts mit meinem Sohn nicht kuscheln kann und gleichzeitig fühlte ich mich so einsam, wie noch nie. Obwohl meine Tochter bei mir war.
Ich wollte zu meinem Sohn und meinem Mann und hatte dann ein schlechtes Gewissen, dass ich mich trotz meiner Tochter einsam fühle. Also habe ich geweint. Erstaunlich, wie viele Gefühle und Ängste in einem hochkommen, wenn die Familie wächst. Ich war überwältigt von den ganzen Emotionen. Und ich konnte mir gar nicht vorstellen Besuche zu empfangen. Corona sei Dank war es auch kein großes Thema. Wir haben nach außen kommuniziert, dass wir ein Neugeborenes diesem Risiko nicht aussetzen wollen. So waren wir in unseren vier Wänden und kämpften mit unseren Startschwierigkeiten. Tagsüber versuchten wir einen schönen Tag mit unserem Sohn und unserer Tochter zu haben und nachts habe ich geweint und wurde getröstet. (Danke an meinen Mann, der einfach nur da war und meine Hand hielt. Genau das habe ich in dem Moment gebraucht. Keine Ratschläge und Lösungen. Sondern jemanden, der da war und mich fest hielt.)
Ende gut - alles gut
Eine turbulente, wunderschöne, kräftezehrende, emotionale Zeit - so würde ich die ersten Wochen nach der Geburt unseres zweiten Kindes beschreiben. Es war schwer, es war überwältigend und es war so voller Liebe, dass ich oft nach der Luft schnappte, weil ich dachte ich ersticke unter meinen eigenen Gefühlen.
So wie die Tage vorüber flogen, so wurden auch meine Tränen immer weniger, der Alltag harmonischer und einfacher, meine Gefühle ausgeglichener und die Realität einer vierköpfigen Familie immer selbstverständlicher.
Die kleine Maus war nicht mehr wegzudenken. Der große Bruder hat sie von Anfang an geliebt. Klar dauerte es noch lange, bis wir unser Gleichgewicht innerhalb der Familie gefunden haben. Bis der Große sich daran gewöhnt hat, dass er von nun an nicht mehr der Einzige ist. Aber die Vorteile ein großer Bruder zu sein, haben alle anderen Schwierigkeiten überschattet.
Ja, manchmal findet er teilen doof, dennoch steckt er ihr mit Vergnügen ein Stückchen seiner Schokolade in den Mund, obwohl sie dafür noch zu klein ist. Ja, manchmal würde er abends im Bett gerne alleine mit der Mama kuscheln, dennoch lacht er sich kaputt, wenn seine Schwester Blödsinn macht, anstatt zu schlafen. Ja, manchmal will er alleine spiele, dennoch rast er jeden Abend auf seinem Bobbycar um den Tisch und lässt sich von seiner Schwester jagen.
Denn sie sind jetzt schon - ein Jahr nach der Geburt - ein tolles Team. Und all meine Sorgen waren unbegründet. Denn am Ende ist alles gut. Noch viel besser, als ich anfangs erwartet habe.