Buchrezension „Inklusion – Wege zur blühenden Vielfalt
Zugegeben, nach 15 Jahren praktischer Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen bin ich hellhörig geworden, wenn es um Modeworte und gesellschaftliche Trends wie „Inklusion“ geht. Demnach war meine Herangehensweise an dieses Buch ein sehr kritischer Blick. Doch gehen wir einen Schritt zurück! Was heißt denn nun das vielstrapazierte Wort „Inklusion“ eigentlich?
Integration beinhaltet die Tatsache, dass jemand integriert, miteinbezogen werden soll/möchte, der vorher bereits ausgeschlossen wurde. Dieser muss von sich aus eine hohe Anpassungsleistung erbringen, während das System, die Gesellschaft nur zu minimalen Änderungen bereit ist. Die Integration, Eingliederung erfolgt daher nur innerhalb schon bestehender Strukturen.
Inklusion dagegen geht vom Ziel aus, dass Menschen mit besonderen Bedürfnissen bereits gleichberechtigt und selbstverständlich in unserer Gesellschaft leben. Menschliche Unterschiedlichkeit wird positiv erlebt. Wir lernen voneinander und sind bereit unsere gesellschaftlichen Strukturen so zu ändern, dass ein selbstbestimmtes Leben für jeden möglich ist.
Die ursprüngliche Zielgruppe des Buches sind Elementar-PädagogInnen.
Aufgrund der vielen konzeptionellen pädagogischen Ansätze und praktischer Beispiele eignet es sich vor allem für Kindergruppen-LeiterInnen im religiösen Bereich. Bereichernd empfinde ich vor allem die Impulse zur Hinterfragung eigener Menschenbilder und Verhaltensmuster. Hier leistet die Autorin ehrliche und selbstkritische Bewusstseinsarbeit. Zeigt anhand praktischer Beispiele auf, wie schnell wir im Alltag urteilen. Kinder aufgrund ihres Aussehens oder Verhaltens ausgrenzen sowie in ihrer Entwicklung behindern.
So geht es im „Kapitel 4. Beziehungsarbeit“ z. B. um Vorurteile. Alleine aufgrund vorhergehender Erfahrungen mit bestimmten Kindern werden Situationen beurteilt, ohne selbst dabei gewesen zu sein. Dies geschieht schnell im Trubel des Alltags. Wir ermahnen aufgrund unserer inneren Erwartungshaltung, ohne wirklich mitbekommen zu haben, was tatsächlich passiert ist. Dies berge die Gefahr zur Legitimation von Sündenböcken, lege den Grundstein zur Bildung von Randgruppen, so die Autorin.
Ebenso sensibilisiert sie für selbsterfüllende Prophezeiungen im „Kapitel 5. Glauben an das Gute in jedem Kind“. Auch die Wichtigkeit der eigenen Bewusstwerdung „innerer Abwehrhaltungen“ gegenüber bestimmten Kindern wird angesprochen. Genauso wie kompetenzorientiertes Arbeiten, als Basis erfolgreicher Inklusion.
Kapitel 6
„Kinder sind nicht aggressiv, sondern Kinder macht etwas aggressiv“ regt dazu an, die Ursache kindlicher Aggression zu suchen, anstatt einfach nur zu reagieren.
Es geht um Raum für körperliche Ausdrucksmöglichkeiten von Emotionen wie Freude, Begeisterung und Aufregung. Fehlen diese, kann die Situation kippen und negativen Stress sowie aggressive Verhaltensweisen erzeugen.
Es geht um innere Bewusstwerdung. Darum, Ausgrenzung von vornherein vermeiden zu können, als Voraussetzung und Basis gelungener Inklusion. Ein Ansatz der berührt.
Doch gerade dieses intensive, vorausschauende Bemühen um den korrekten Umgang mit Kindern, die oft vorschnell eingeordnet und vorverurteilt werden, lässt mein pädagogisches Herz bei manchen Beispielen bluten. Vor allem beim zweiten Schwerpunkt des Buches, wo es um kreative Ideen für neue, passendere Rituale und Rahmenbedingungen im Tagesablauf von Kindergruppen geht. Mit Beispielen aus der Praxis, wie strukturelle Rahmenbedingungen zugunsten der Kinder verändert werden können. Ganz im Sinne der Inklusion also.
Das Problem dabei ist, dass manchmal von Inklusion gesprochen wird, wo es wieder nur um Integration geht.
Der strukturelle Rahmen verändert wird, nur um der äußerlichen Veränderung willen. Ohne sich mir erschließbaren Grund. Wieder ein pädagogisches Konzept mehr erfunden wird, das nicht notwendig wäre. Oder in meinen Augen „normale pädagogische Vorgehensweisen“ als Inklusion missdeutet werden.
Was mir jedoch besonders weh tut, ist die Tatsache, dass bei einigen Beispielen nicht auf die eigentlichen grundlegenden körperlichen und geistigen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten eingegangen wird.
Denn so sehr ich den Grundgedanken der Autorin schätze, meine persönliche Erfahrung ist, dass manchmal auch die professionelle, therapeutische, bewusst defizitorientierte Herangehensweise zum Ziel führt.
Ohne, dass der Rahmen, die Struktur künstlich aufgesetzt verändert werden muss. So ist z. B. die Frage nach der Ursache, das Eingehen auf die individuellen emotionalen und körperlichen Bedürfnisse „auffälliger“ Kinder für jede Ergotherapeutin selbstverständlicher Bestandteil ihrer Arbeit. Genauso wie der Einbezug des sozialen Systems. Anpassungen in der Tagesstruktur werden hier an den notwendigen „Knackpunkten“ automatisch vorgenommen, ohne dies groß als Inklusion zu titulieren.
Schade, denn die grundlegende Idee, der eigenen Bewusstseinsarbeit ist ein wertvoller Gedanke! Auch ich habe mich bei vielen „Negativ Beispielen“ wieder gefunden. Dieser Ansatzpunkt allein wäre ein Buch wert gewesen.
Buchtipp
Fachbuchreihe Pädagogik im Verlag UNSERE KINDER, 143 Seiten, ISBN 978-3-9505236-1-4