Einander in einem neuen Licht sehen
„Ach, das wird mein Mann sicher niemals mitmachen“, höre ich von einer Freundin. Ein anderes Mal ist ein Mann überzeugt: „Darüber wird meine Frau sich bestimmt ärgern.“ Manchmal scheint es uns so, als könnten wir das Verhalten unserer Partnerin/unseres Partners vorhersagen. Aber nehmen wir unsere zweite Hälfte immer richtig wahr?
Weil meine Freundin meinte, ihr Mann mache bei einer angedachten Aktivität sowieso nicht mit, schlug sie sie ihm erst gar nicht vor. Gleichzeitig war ihre Wehmut darüber zu spüren, dass sie nicht gemeinsam mit dabei sein würden. Doch wer weiß, vielleicht wäre sie positiv überrascht worden, wenn sie nicht dieses Bild von ihrem Mann im Kopf gehabt hätte.
Das Bildnis und seine Haken
Max Frisch sinniert in einem Tagebucheintrag darüber, wie es sich verhält mit der Liebe und den Bildnissen, die wir uns von der geliebten Person machen. Solange wir in der Zeit der Verliebtheit, des Kennenlernens sind, sind wir neugierig und offen dem gegenüber, wie der andere sich verhält, was er/sie denkt und fühlt, wie er/sie mit der Welt in Beziehung tritt. „Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen“, schreibt Frisch.
Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.
Doch mit der Zeit kann dieses erst so spannende Rätsel, das der andere für uns darstellt, und das wir erkunden wollen, in seiner Vielfältigkeit schwer auszuhalten sein. Unser Gehirn neigt dazu, Komplexität zu reduzieren – wir bilden Kategorien, in die wir Erlebtes einteilen. In uns entsteht ein Bild davon, wie der andere sei. Ein Haken kann nun sein, von diesem Bildnis auszugehen, das wir uns innerlich angelegt haben, wodurch wir leicht übersehen, was real an Möglichkeiten und Entwicklungspotential da ist. Um bei Max Frisch zu bleiben: „Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei.“
Wahrnehmen, was ist
Um wirklich miteinander in Fühlung zu bleiben, müssen wir uns auf diese Lebendigkeit, auf die ständige Verwandlung, einlassen. Wir spüren nach, was unsere Bildnisse sind und machen sozusagen einen Realitätscheck: Was ist bloß mein Bild und wie „tickt“ mein Partner/meine Partnerin eigentlich tatsächlich? Sehr hilfreich ist dafür ein achtsames Beobachten: Einmal nichts tun, planen und wollen, sondern ohne besondere Absicht meinen Partner/meine Partnerin betrachten und das auf mich wirken lassen. Wie er/sie mit jemandem spricht, werkt oder mit den Kindern spielt.
Was ist bloß mein Bild und wie „tickt“ mein Partner/meine Partnerin eigentlich tatsächlich?
Ein Bekannter erzählte uns davon, wie er mit seiner Frau die Terrasse neu angelegt hat. Die Kinder waren bei den Großeltern, nur sie beide stürzten sich in das gemeinsame Projekt. Seine Aufgabe war es geworden, den angerührten Beton zur Baustelle zu bringen, während seine Frau ihn verteilte. Als er einmal mit einer Fuhr um die Hausecke bog, blieb er kurz stehen, um sie zu beobachten. Er sah seine werkende Frau und spürte ganz stark ein Gefühl der Liebe in sich aufsteigen. Er war dankbar, dass diese tatkräftige, den Überblick behaltende, in Schweiß und Schmutz schöne Frau, die gerade rief, wo er denn so lang bleibe, seine Partnerin war, mit der er an ihrer gemeinsamen Terrasse arbeitete.
Es sah sie in diesem kleinen Moment in einem neuen Licht, konnte sie in ihrem Wesen erfassen und fühlte sich ihr stark verbunden. So dürfen wir uns auch nach Jahren immer wieder neu voneinander überraschen lassen.