Eine Gute-Nacht-Geschichte: Die Brüder Grimm
In einer verfallenen Hütte im Wald leben die drei Brüder Grimm. Sie sind ungastliche Zeitgenossen, die von den Dorfbewohnern gemieden werden. Bis das Geschenk einer alten Frau alles ändert…
Am Rande eines kleinen Dorfes leben die Brüder Grimm in einer alten, windschiefen Hütte. Durch die Löcher in der Holzwand pfeift heulend der Wind. Die verwitterte Türe quietscht schnarrend in verrosteten Angeln. Manch ein Fenster besteht aus grob zusammengenagelten Brettern. Und wenn es regnet, haben die Brüder Grimm Wasser in ihrer Hütte. Der Zaun vor dem Haus ist schon seit vielen Jahren verfallen, der Garten mit seinem meterhohen Gras und dem Unkraut verwildert. Unrat und Schmutz türmen sich vor der Hütte. Die Leute im Dorf machen einen großen Bogen um die Hütte. Sie ist ihnen unheimlich. Sie haben Angst vor den Brüdern Grimm.
Der große, der ganz große und der ganz fürchterliche Grimm
Drei Brüder hausen dort. Die Leute im Dorf nennen sie den großen Grimm, den ganz großen Grimm und den ganz fürchterlichen Grimm. Keiner im Dorf weiß, wie sie wirklich heißen. Weil sie aber gar so grimmig dreischauen und sich alle im Dorf fürchten, nennen sie den jüngsten Bruder großer Grimm, den mittleren ganz großer Grimm und der älteste der Brüder wird nur flüsternd der ganz fürchterliche Grimm genannt.
Die Brüder Grimm haben lange Haare und wilde Bärte. Finstere Augen starren unter buschigen Augenbrauen hervor. Gesicht und Hände sind schwarz vor Dreck. Wovon die Brüder Grimm leben? Daran wagt niemand im Dorf auch nur zu denken. Nur abends, wenn die Kinder nicht schlafen gehen wollen und laut durch das Dorf toben, flüstern die Alten leise: Euch werden die Brüder Grimm holen, wenn ihr nicht brav seid.
Eine Überraschung für die Brüder Grimm
Eines Tages kommt eine alte Frau in das Dorf. Langsam geht sie die Straße entlang. Aus den Fenstern verfolgen sie neugierige Augen. Wohin geht sie? Im Arm hat sie ein Bündel Decken, oder sind es Kleider, oder…? Was trägt sie da? Hat sich das Bündel nicht gerade bewegt? Nein, das war wohl ein Irrtum.
Mühsam setzt sie Fuß vor Fuß. So schlurft sie durch das ganze Dorf, bis … Nein, das kann nicht wahr sein. Sie wird doch nicht? Doch, sie lässt die Häuser des Dorfes hinter sich und… kommt zur Hütte der Brüder Grimm. Dort bleibt sie kurz stehen. Sie seufzt und holt noch einmal tief Luft. Dann klopft sie energisch an die verwitterte Türe der Brüder Grimm. Die Leute im Dorf halten den Atem an.
Der große Grimm reißt die Türe auf und funkelt die Alte an. Wortlos drückt sie ihm das Bündel in die Hand und schlurft so langsam wie sie gekommen ist durch das ganze Dorf zurück. Der große Grimm steht da und starrt ihr nach. Die Alte ist schon lange am anderen Ende des Dorfes im dichten Wald verschwunden. Doch der große Grimm steht noch immer da. Vor lauter Staunen bekommt er den Mund gar nicht mehr zu. Dann schaut er langsam nach unten auf das Bündel in seinen Händen. Jetzt wird er ganz blass. Er dreht sich um und wankt in die Hütte hinein.
Schwerfällig geht er zum Tisch. Der ganz große Grimm stiert ihn aus roten Augen an, der ganz fürchterliche Grimm schnarcht laut von seinem Strohsack her. Mit einem Schlag wischt der große Grimm das dreckige Geschirr vom Tisch. Scheppernd stürzt das Blechgeschirr zu Boden. Der ganz fürchterliche Grimm fährt laut fluchend aus seinem Schlaf auf.
Langsam und vorsichtig, fast zart legt der große Grimm das Bündel auf den Tisch. Dann wickelt er dir Decke auf. Ein kleines, rosiges Baby lächelt aus strahlenden Augen auf die wilden Gesellen. „Schei…“, beginnt der ganz große Grimm zu fluchen. Doch mehr kann er nicht sagen, schon hat ihm der ganz fürchterliche Grimm eine geschmiert und der große Grimm drückt seine schwarzen Hände fest auf die kleinen Ohren des Babys.
„…ße!“, kommt es aus dem Mund des ganz großen Grimms. Er reibt sich seine schmerzende Wange. Wütend starrt er den ganz fürchterlichen Grimm an. Zorn blitzt aus seinen Augen. Gleich wird es eine fürchterliche Schlägerei unter den Brüdern geben. „Hört auf,“ flüstert da der ganz fürchterliche Grimm. „Das Baby!“ „Genau,“ brüllt der ganz fürchterliche Grimm. dann flüstert auch er: „So ein Wort darfst du nicht sagen. Schau nur das Baby!“ „Aber…“, entgeistert starrt der ganz große Grimm von einem Bruder zum anderen, „aber, das ist doch ein wichtiges Wort. Jeder von uns sagt es andauernd. Was soll falsch sein an einem so wichtigen Wort? Wie soll man sonst vernünftig reden? „Aber das Baby hat doch noch so zarte Ohren. Es ist solche Worte nicht gewohnt“, flüstert der große Grimm.
„Zarte Ohren“, schreit jetzt der ganz fürchterliche Grimm und reißt die Hände des großen Grimm von den Ohren des Babys weg.
Oh je, jetzt sehen alle, was der große Grimm angerichtet hat. Der starrt auf seine Hände. Die sehen aus wie immer. Dann schaut er entsetzt auf das Baby. Die kleinen, rosigen Ohren verstecken sich nun unter schwarzem Dreck. „Das muss wieder weg“, sagt der ganz große Grimm und geht zum Kamin. Dort hängt der Kochtopf der Brüder. Wenn man in den hineinschaut, sieht man, was die Brüder Grimm im letzten Monat alles gegessen haben. Im Kaminsims stecken die großen Fleischmesser und… irgendwo muss es doch sein. Unter dem Berg alter Schweineknochen zieht der ganz große Grimm schließlich das Geschirrtuch hervor.
„Damit machen wir das Baby sauber“, triumphiert er und stellt das Geschirrtuch stolz auf den Tisch. Der große Grimm starrt noch immer auf seine Hände. Sie haben die gleiche Farbe wie das Geschirrtuch. „Damit machst du alles nur noch schlimmer“, brüllt der ganz fürchterliche Grimm und wirft das steife Tuch bei der Türe hinaus.
Das Baby mischt die Brüder auf
Dann passiert etwas, was es in dem kleinen Dorf noch nie gegeben hat: Der ganz große Grimm schleicht verschämt zum Brunnen am Dorfplatz. Laut kreischend fliehen die Kinder und auch die Frauen rennen davon und verstecken sich hinter den Häusern. Ein Grimm im Dorf, das ist gefährlich. Verlegen schaut sich der ganz große Grimm um. Niemand da. Das ist gut. Bald beginnt er Wasser zu schöpfen. Unbeholfen reibt er seine schwarzen Hände an dem schwarzen Tuch. Eine Stunde steht er da und reibt und reibt und reibt. dann tauchen die ersten Flecken roter Farbe auf dem Tuch auf. Und auch die Hände sind nur mehr schwarzgrau. Nach weiteren zwei Stunden ist das Tuch fast überall rot und die Hände des ganz großen Grimm sind rosig wie das Gesicht des Babys.
So rennt er zur Hütte zurück. Der ganz fürchterliche Grimm hält dort das Baby in seinen Armen. Der große Grimm bearbeitet den Tisch mit einer Spachtel und kratzt den dicken Dreck herunter. Der ganz große Grimm greift nun mit seinen rosigen Händen nach dem nicht mehr ganz so sauberen Baby. Auch der ganz fürchterliche Grimm hat ordentlich abgefärbt.
„Gib es mir“, ruft der ganz große Grimm und zeigt seine sauberen Hände. „Uwähhhh“, stöhnt da der ganz fürchterliche Grimm, „schaut das grauslich aus.“ Versucht dann aber doch das Baby seinem Bruder zu geben. Versucht! Denn irgendwie hat sich die kleine Hand im dichten, starren Bartfilz des fürchterlichen Grimms verfangen. Eine Zeitlang ziehen und zerren sie vorsichtig an dem kleinen Baby herum. dann greift sich der große Grimm das scharfe Messer und schneidet kurzerhand ein Stück Bart aus dem Gesicht des ganz fürchterlichen Grimm.
„So kann es nicht weitergehen“, brüllt der ganz fürchterliche Grimm. Die beiden anderen Grimms ducken sich ängstlich hinter den Tisch. Wenn der ganz fürchterliche Grimm so losbrüllt, kann es ganz schön gefährlich werden.
Der drückt dem ganz großen Grimm das befreite Baby in die sauberen Hände, ergreift den großen Grimm am Ohr und zerrt ihn hinaus. So stolpern die beiden durch das Dorf zum kleinen Fluss auf der anderen Seite. Der ganz fürchterliche Grimm stößt den großen Grimm in das klare, kalte Wasser und springt hinterher. So reiben und kratzen, schaben und schneiden sie lange an Gewand, Haut und Haaren. Viele Stunden später steigen sie aus dem Fluss. Der Haarschnitt ist etwas eigenwillig, das Gewand immer noch viele Male geflickt, aber sauber sind die beiden wie noch nie in ihrem Leben zuvor.
Als sie zurück in ihre windschiefe Hütte kommen, finden sie den großen Grimm mit einem schreienden Baby verzweifelt durch die Hütte eilen. Vorsichtig schüttelt er das kleine Wesen um es zu beruhigen. „Was ist denn los mit dir?“, flüstert zärtlich der ganz große Grimm und nimmt dabei das Baby in seine Arme. Erleichtert klopft der große Grimm dem ganz fürchterlichen Grimm auf die Schulter. „Endlich seid ihr da!“ Doch der ganz fürchterliche Grimm schlägt zornig die Hand weg. „Nimm deine dreckigen Pfoten weg. Wie kann man nur so schmutzig sein. geh dich endlich waschen“, brüllt er.
Der große Grimm schaut auf seine sauberen Brüder, dann langsam an sich herab. Wortlos dreht er sich um, geht aus der Hütte hinaus, durch das Dorf hinunter zum Fluss und springt hinein.
Arbeit für die Milch
In der alten Hütte hat das Baby wieder zu brüllen begonnen. Hilflos schütteln der ganz große und der ganz fürchterliche Grimm das kleine Baby. „Ob es wohl Hunger hat?“, fragt der ganz große Grimm. „Schweine und Kühe schreien doch auch, wenn sie Hunger haben. Und wenn du nichts zwischen deine Zähne bekommst, brüllst du auch herum!“ „Das ist es“, strahlt der ganz fürchterliche Grimm, „doch was isst so ein Baby?“ Suchend schweift sein Blick durch die Hütte. Dann zieht er aus dem Kochtopf eine abgenagte Schweinestelze. Triumphierend hält er sie dem Baby entgegen.
„Du Idi…“, gerade noch rechtzeitig unterbricht sich der ganz große Grimm und schaut verschämt auf die kleinen Ohren des Babys. „Du Hmmmmmm“, brüllt er, „ein Knochen für ein Baby! Milch braucht es, Milch!“
Der ganz fürchterliche Grimm nickt und stürmt aus der Hütte. Er rennt ins Dorf zum Bauern. Der ist gerade dabei den großen Misthaufen auf seinen Wagen zu schaufeln. Er möchte damit sein Feld düngen. Eine Arbeit, die er gar nicht gerne macht. Als der fürchterliche Grimm so auf seinen Hof rast, schreit er voll Angst auf und verkriecht sich hinter dem Misthaufen. „Milch“, brüllt der fürchterliche Grimm, „Milch, ich braue Milch.“ Hilflos sieht er sich am Hof um. „Ich will auch dafür arbeiten“, flüstert er und beginnt den großen Wagen mit Mist zu beladen.
Als er fertig ist, stellt die Bäuerin rasch einen Krug Milch vor die Türe, schlägt sie sofort wieder zu und schiebt den großen Riegel vor. Zitternd schaut sie aus dem Fenster. Glücklich nimmt der ganz fürchterliche Grimm den Krug und eilt nach Hause. Unterwegs vergisst er nicht einmal sich am Dorfbrunnen zu waschen.
Das ganze Dorf hilft mit
Verdutzt und verdattert, staunend und fragend versammeln sich die Leute am Platz mitten im Dorf. „Eine Frau…“, „zu den Grimms…“, „mit einem Bündel…“, „…Wasser“, „…alle gewaschen…“, so reden sie alle gleichzeitig durcheinander. „…und für die Milch hat der ganz fürchterliche Grimm sogar gearbeitet.“
Ein Krachen und Scheppern lässt alle ängstlich zusammenzucken. Vorsichtig gehen sie zum Rand des Dorfes. Der Lärm kommt von der Hütte der Brüder Grimm. Der ganz große Grimm wirft mit einer Schaufel Mist und Unrat aus der Hütte. Der große Grimm flickt die Löcher im Dach. Der ganz fürchterliche Grimm streicht die Wände mit weißer Farbe. Farbe! Noch dazu weiß! Und das bei den Brüdern Grimm!
Dann sieht ein Kind den blitzblank geputzten Kochtopf der Brüder Grimm. Er liegt auf der Seite und wiegt sich sanft im Schatten.
„Ein Baby“, ruft ein Kind, „ein Baby liegt im Kochtopf.“ Wirklich, satt und zufrieden lächelt glucksend ein Baby aus dem Kochtopf heraus. Der ganz fürchterliche Grimm hört auf zu malen. Auch er lächelt. „Wir haben nicht wo man ein Baby hineinlegen kann.“ „Aber blitzblank ist der Topf“, ruft glücklich der große Grimm. „Und jetzt machen wir dem Baby ein schönes Haus!“, strahlt der ganz große Grimm.
Es dauert nicht lange und die ersten Frauen kommen mit Babygewand. Andere bringen eine Wiege, Windeln und Spielsachen. Die Männer holen ihr Werkzeug. Und bald hämmert, klopft und streicht das ganze Dorf an der Hütte der Brüder Grimm herum. Abends feiern alle ein fröhliches Fest. Das ganze Dorf, die gar nicht mehr schrecklichen Brüder Grimm und das glücklich strahlende Baby.
Am Waldrand steht eine zufrieden lächelnde Frau. Ihr Baby hat die Brüder Grimm verändert. Auch in dieses Dorf hat ihr Baby Ruhe und Frieden gebracht.
Eine weitere Gute-Nacht-Geschichte: „Das Geschenk“