Hilflosigkeit und Verzweiflung in der Kindererziehung

„Ich will meine Kinder nicht anschreien. Es tut mir jedes Mal total leid, wenn ich meinen Kindern gegenüber ausraste.“ So oder ähnlich beginnen oft Gespräche, die ich im Rahmen meiner Arbeit mit Eltern führe. Was ich „hinter diesen Worten“ jedes Mal spüre, ist die Ohnmacht und Verzweiflung, in der sich Eltern befinden, die keine andere Wahl haben, als ihr Kind anzubrüllen.

Viele Eltern sind inzwischen durch dutzende Bücher über Kindererziehung, hunderte Ratgeber, wie „man“ es richtig macht und nicht zuletzt durch die verschiedensten Erziehungsstile sowie Ergebnisse der Hirnforschung diesbezüglich sensibilisiert. Sie haben demgemäß weit überhöhte Ansprüche an sich selbst, welchen sie nie und nimmer gerecht werden können. Und das erzeugt noch mehr Verunsicherung, Selbstzweifel und endet in einem Teufelskreis von negativen Emotionen, für die sich Eltern dann auch noch selbst verurteilen und kritisieren.

Wenn Sie das kennen und es beenden wollen, dann ist der erste Schritt, damit aufzuhören, sich selbst abzuwerten oder gar zu bestrafen, wenn es wieder mal nicht gelungen ist, in der Hektik des Alltags die Ruhe und Gelassenheit eines tibetischen Mönchs an den Tag zu legen.

Was die Wissenschaft über Wut sagt

Wut ist – und nun komm auch ich mit Erkenntnissen der Hirnforschung daher – eine  automatische Reaktion unseres Gehirns, eines Gehirnanteils namens Amygdala, der nur dafür zuständig ist, dass wir stark sind, um kämpfen zu können oder schnell, um davonzurennen, wenn  uns Gefahr droht. Für unser Gehirn ist aber jedes Mal, wenn wir nicht weiter wissen, uns hilflos, ohnmächtig und/oder ausgeliefert fühlen, Gefahr angesagt.

Und da das Gehirn „Gefahr ja oder nein“ in Millisekunden entscheiden muss, kann es nicht differenzieren, ob ein brüllender Löwe vor uns steht oder unser brüllendes Kind. Es erkennt auch nicht den Unterschied, ob uns ein Räuber angreift oder ob unser Kind seit einer gefühlten halben Stunde nicht weitertut und sich nicht die Schuhe anzieht, obwohl wir mittlerweile vor 10 Minuten das Haus verlassen hätten müssen, damit wir pünktlich zur Arbeit kommen. Und noch dazu können wir in Situationen mit unseren Kindern nicht davonrennen und sie alleine lassen – somit bleibt (für das Gehirn) erstmal nichts anderes als kämpfen.

Das Gefühl von Ohnmacht

Wut ist also ein sogenanntes Sekundärgefühl, das dann entsteht, wenn wir uns nicht zu helfen wissen, uns schwach und ohnmächtig fühlen, völlig gleich, was der Auslöser dafür ist. Die Frage ist, wieso wir die dahinterliegenden Emotionen nicht wahrnehmen können. Einfach deshalb weil es 1) so schnell geht und 2) weil wir nicht geübt sind im Wahrnehmen unserer Emotionen.

Beobachten wir nun unsere eigenen Gedanken oder Worte während wir wütend sind, dann entdecken wir oft entweder abwertende Verallgemeinerungen wie z.B.: „Du führst dich immer auf wie ein Tyrann/eine Heulsuse“ oder Sätze, mit welchen wir die Verantwortung für uns Wohl und Weh unseren Kindern übertragen, wie z.B. „Du nervst mich“ oder „Du machst mich noch wahnsinnig“. Manchmal steckt auch eine Überzeugung dahinter, wie etwas „zu sein hat“, z.B. „Man spielt nicht mit dem Essen“ oder „man muss zu anderen höflich sein“.

Eigenes Verhalten bewusst machen

Erkennen wir diese Gedanken und hinterfragen sie auf ihren Wahrheitsgehalt, dann können wir unserem Irrtum auf die Schliche kommen und das allein bewirkt schon, dass wir wieder ruhiger werden anstatt uns noch mehr in die Wut hineinzusteigern.

Es hilft auch, die Wut einfach mal zu fühlen, sprich in den Körper hinein zu spüren, wie es sich anfühlt, wütend zu sein. Da ist ganz schön viel Bewegung, Kraft und Energie in den Zellen. Normalerweise entladen wir diese Kraft und Energie durch unsere Worte und Handlungen an unseren Kindern. Es wär ja vielleicht einmal einen Versuch wert, die Kraft einfach nur zu spüren ohne zu reden oder zu handeln. Wenn sie gesehen und angenommen wird, dann entlädt sie sich früher oder später, je nach Intensität, von ganz allein wieder. Unser Nervensystem muss nämlich immer für Ausgleich sorgen (Anspannung – Entspannung) und lassen wir das zu, dann beruhigen wir uns ganz von selbst.

Mir ist klar, dass obiges viel leichter gesagt als getan ist. Es ist leichter, es zu tun, wenn die Wut noch nicht so groß ist. Ein kleines bisschen Ärger bietet sich für die ersten paar Male an. Hier können wir uns unsere Kinder als Vorbild nehmen. Sie haben jeden Tag dutzende Male versucht, aufzustehen, sind hingefallen, wieder aufgestanden, sind einen Schritt allein gegangen, dann wieder hingefallen, usw. Wie lange es auch gedauert hat und wie oft sie auch wieder hingefallen sind – früher oder später konnten sie alle laufen.

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