Ich bin für mein Wohlergehen zuständig – Die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen
Wenn etwas nicht nach unseren Vorstellungen läuft, es uns nicht gut geht, ist manchmal die Verlockung groß, die Schuld bei den anderen zu suchen. Damit geben wir Verantwortung ab. Nicht ich muss etwas tun, sondern ich bin doch das Opfer und ausgeliefert. Oder nicht?
„Wenn du doch nur…“
Auf dem Weg ins Erwachsenenleben lernen wir uns selbst immer besser kennen. Eine wichtige Aufgabe dabei ist, die eigenen Verhaltensweisen, Reaktionen und Gefühle auch einmal interessiert kritisch zu hinterfragen: „Aha, jetzt würd ich dem aber schon gern meine Meinung sagen. Was regt mich denn an dieser Person eigentlich so auf? Was brauche ich denn?“ So können wir uns von einer Abhängigkeit hin zu mehr Eigenverantwortlichkeit bewegen: Beispielsweise von einem „wenn mein Partner/meine Partnerin doch nur aufmerksamer wäre, würde es mir besser gehen“ hin zur wohlwollenden Frage danach, wie es mir geht und was ich brauche – und was ich dafür selbst tun kann.
Der Geschirrberg in der Küche
Ein Beispiel: Im Frühjahr letzten Jahres hat unser Sohn in einer Waldkindergruppe begonnen. Für mich als Mama war die Eingewöhnungszeit eine ganz schöne Umstellung, da sich unser ganzer Tagesablauf veränderte – früh aufstehen, am Vortag schon Jause richten und Mittagessen vorbereiten, am Vormittag dabei sein und nachmittags gut für die Kinder da sein, um Spannungen auszugleichen, und wieder alles vorbereiten. Unsere Tochter war ein halbes Jahr alt und brauchte dementsprechend auch viel „Mama“. Mein Mann hatte kurz davor Arbeit gewechselt und war noch beschäftigt damit, gut hineinzukommen in die neue Arbeitssituation, und das im Corona bedingten Homeoffice. Wir waren beide ziemlich gefordert und unsere Kapazitäten waren ausgelastet.
Eines Abends habe ich die Kinder ins Bett begleitet und wäre selbst am liebsten gleich mit eingeschlafen. Ich stand aber nochmal auf, um noch etwas herzurichten, damit es in der Früh nicht zu stressig wird. Und in der Küche fand ich noch den ganzen Geschirrberg, der sich im Laufe des Tages angehäuft hatte. Mein lieber Mann saß währenddessen beim PC und schaute sich eine Serie an. Ich spürte Wut in mir aufsteigen und in mir meckerten Vorwürfe los über ihn und Selbstmitleid für mich.
Trotzdem schaffte ich es, mich zu entscheiden, dass ich jetzt nicht gleich auf ihn einrede. Stattdessen machte ich das Notwendigste und tat mir selbst etwas Gutes, indem ich früher ins Bett ging. Am nächsten Tag dachte ich über die Situation nach und konnte gut sehen, dass ich mich hilflos und überfordert fühlte. Dass mein Mann seinen wertvollen Beitrag leistet, wusste ich. Ebenso, dass er sich am Abend auch für ein Stündchen zurückziehen darf.
Eigentlich wünschte ich mir von ihm einfach, dass er anerkennt, dass es für mich gerade schwer ist.
Eigentlich wünschte ich mir von ihm einfach, dass er anerkennt, dass es für mich gerade schwer ist. Am Nachmittag saßen wir dann bei einem Kaffee zusammen und ich sprach an, wie es mir am Vorabend gegangen war und was ich mir von ihm wünsche. Wir konnten gut darüber reden und wir rückten näher zusammen.
Was steckt dahinter?
Hinter der Wut steht ein Bedürfnis und das habe ich versucht, zu erkennen. Statt beleidigt zu schweigen oder meinen Mann gleich anzugreifen, habe ich nachgespürt, was hinter meiner Wut steckt und geschaut, was ich brauche und wie ich dieses Bedürfnis erfüllen kann.
Darüber haben wir dann als Paar gesprochen und uns so wieder ein Stück besser kennengelernt. Wir können uns einander anvertrauen. Das tut gut: gehört zu werden und umgekehrt auch zu erfahren, was meinen Partner oder meine Partnerin gerade bewegt. Da geht es nicht in erster Linie um eine Lösung, sondern darum, dem anderen Raum zu geben und einander erzählen zu lassen.
Ich sorge für mich, wir sorgen füreinander
Gut auf sich selbst zu achten hat nichts zu tun mit einem egoistischen „Ich komme immer zuerst“-Gedanken oder der Verlockung, alles alleine schaffen zu wollen. Wenn wir uns selbst immer besser kennenlernen, wahrnehmen, was wir brauchen, was uns gut tut und gut Sorge für uns tragen, sind wir wie starke lebendige Bäume. Dann sind wir tragfähig, können auf die Umweltbedingungen passend reagieren, haben durch unsere Wurzeln guten Halt und lassen uns von Boden, Luft und Sonne Nährstoffe und Wasser schenken, aus denen wir wiederum etwas machen.
Es geht nicht in erster Linie um eine Lösung, sondern darum, dem anderen Raum zu geben und einander erzählen zu lassen.
Ein Baum wächst aber einige Zeit, bis er kräftig und tragfähig ist, bis das Wurzelwerk stabil und breit ist. Genauso braucht es Zeit, um sich selbst kennenzulernen: Was ist mir wichtig? Was tut mir gut? Was sollte ich besser loslassen? Es braucht Zeit und Ruhe, zum Hineinspüren und Reflektieren, zum Auftanken. Als Paar unterstützen wir uns gegenseitig dabei, echte Bedürfnisse zu erkennen, sie zu erfüllen und helfen uns dabei, Oasen zum Regenerieren zu schaffen. Dafür ist der Austausch unersetzlich, um gut in Verbindung zu bleiben.