Streiten will gelernt sein – Vier Stolpersteine
Es ist fast 21 Uhr und ich genieße die Stille. Nun ist Ruhe eingekehrt in unseren vier Wänden. Endlich! Heute war wieder ein sehr anstrengender Tag. Einer dieser Tage, an denen ich mich nicht frage, warum es Erziehungsbücher wie Sand am Meer gibt.
Schon beim Frühstück schafft es ein Miesepeter die Stimmung der ganzen fünf-köpfigen Familie zu kippen und irgendwie streitet dann jeder mit jedem. Einer dieser Tage, an denen man sich fragt, wer das Wort Geschwisterliebe erfunden hat und ob derjenige vielleicht doch Einzelkind ist.
Einer dieser Tage, an denen man dankbar ist, dass morgen wieder Schule ist. Einer dieser Tage, an denen man sich eine große Tafel Schokolade als Nervenfutter, Presslufthammer-Gehörschutz-Kopfhörer und einen Hängesessel mitten im Wald wünscht.
Kennt ihr solche Tage? Wie gesagt war heute wieder ein solcher Tag, und manchmal stelle ich mir die Frage: „Muss das sein? Gibt es auch ein Leben ohne Streit? Warum streitet man eigentlich?“
Streiten als Chance
Beziehungsforscher sagen, dass Streit etwas sehr Wichtiges für Beziehungen sei. Jeder Streit birgt die Chance, dass etwas ans Licht kommt, das sonst verborgen bleibt und heimlich und unbewusst weiterarbeitet. Jeder Streit offenbart mir ein wenig vom anderen. Streit ist also kein Beziehungskiller, eher das konstruktive Gegenteil, aber es gibt Stolpersteine, die gefährlich werden können, denn man kann im Streit sein Gegenüber auch ziemlich verletzen.
So sind wir bei dem Punkt, dass Streit wichtig ist und dazugehört, also: Ja, es muss manchmal sein. Und jetzt kommt das große Aber: Richtig streiten muss man lernen.
Und wenn ich es nicht aus eigener Erfahrung wüsste, könnte ich es wahrscheinlich nicht glauben, doch auch Kinder haben solche verletzenden Streitereien wirklich drauf. Leider durch das Vorbild, das wir ihnen liefern. Richtig zu streiten ist nicht leicht und da muss ich mich als Mama auch an der Nase nehmen.
Vier Stolpersteine, die es zu vermeiden gilt
Wie in fast allem, das man lernen muss, gibt es auch im Streit Do’s und Don’ts. Was sind solche Stolpersteine?
Unsachliche Kritik
Zum Beispiel: „Du tust immer“, „Jedes Mal das Gleiche“ oder „Das ist ja typisch“…Na, bekannt? Ich muss leider gestehen, dass ich diese unsachlichen Pistolen echt draufhabe. Eigentlich ist es ja schon falsch, dass ich den Satz mit „du“ beginne, denn es ist ja mein Problem, dass ich gerade wütend bin. Besser wäre, ich würde mit mir beginnen, also eine Ich-Botschaft, wie sie in der Psychologie genannt wird, mitteilen.
Mich macht es gerade sehr wütend, dass du so herumschreist.“ Oder „ Es ärgert mich, wenn du das nicht wegräumst, obwohl es deine Aufgabe war.
Ich muss sagen, dass ich jedes Mal, wenn ich daran denke und meine Sätze so formuliere (und das ist nicht so oft, wie es ich mir wünschen würde), wirklich erstaunt bin, dass mein Gegenüber viel besser zuhört als sonst.
Betitelungen
Ein weiterer Stolperstein im Streit sind Betitelungen. „Du bist so gemein, faul, unzuverlässig….“ „Du dumme sowieso“, „Du blöder dies und das“. Leider sind das keine Worte, die den anderen aufbauen. Sie bewirken auch nicht, dass der andere nun ganz Ohr ist, um zu erfahren, was jetzt eigentlich mein Problem ist.
Sie verletzen. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber wirklich unberührt bleibt man davon nicht.
Geht mir selbst ja auch so. Entweder werde ich traurig oder zornig, wenn ich solche Worte höre.
Bei uns gab es schon Zeiten, da führten wir einen Pass mit Stempel für das Bemühen, solche Wörter zu vermeiden.
Bei voller Stempelzahl gab es dann eine kleine Belohnung. Vielleicht wäre jetzt wieder ein Pass ganz gut, denk ich mir gerade. Ein vergessener Schatz, den ich wieder mal hervorholen könnte.
Rechtfertigung und Gegenangriff
Ein weiterer Stolperstein ist die Rechtfertigung und der Gegenangriff. Bei Kindern ist es das typische Spiel: „Er hat angefangen, nein sie, nein er…“ Doch ich merke, dass ich auch dazu neige, Kritik nicht einfach kommentarlos anzuhören sondern manchmal innerlich schon einen Gegenangriff vorbereite. „Du hast ja auch“ oder „Da redet der Richtige …“ .
Das Aufstellen von Mauern
Ein letzter Stolperstein für nicht-konstruktiven Streit, ist dann das Aufstellen von Mauern. „Ich hör dir nicht zu“ oder einfach den Raum verlassen und Türen knallen. Freunde von uns hatten einmal Schaumstoffstopper an den Türen der Kinder, damit die Tür nicht knallt, wenn man sie zuschlägt. Auch das hatte ich schon fast vergessen.
Diese vier Stolpersteine kennt wahrscheinlich jede Familie. Sie sind deshalb nicht konstruktiv, weil sie respektlos sind. Auf jede dieser vier Arten mache ich mein Gegenüber klein, bewusst oder unbewusst.
Harte Arbeit
Es ist kaum zu glauben, wie schnell man immer wieder über solche Stolpersteine purzelt. Bei anderen fallen sie einem leider immer viel schneller und heftiger auf als bei einem selbst. Mein Mann und ich haben uns erlaubt, uns gegenseitig immer wieder zu ermahnen, liebevoll. Es ist jedoch wirklich harte Arbeit.
Unsere Kinder tappen in dieselben Fallen. Ich war ihnen da oft kein gutes Vorbild. Gestern hat mein Kleiner zu seinem Papa gesagt: „Ich könnte die Mama auf den Mond schießen.“ Mein Mann fragte ihn verwundert: „Wieso sagst du das?“ und die ganz ehrliche und brutale Antwort war: „Sie hat das auch gesagt.“
Unsere Kinder halten uns beim Streiten ganz direkt den Spiegel vor. Auch wenn es mich manchmal erschreckt, so ist es doch auch heilsam.
Denn genau so will ich nicht reden und schreien oder andere verletzen. Ich darf immer wieder neu an mir arbeiten. Statt genervt zu sein vom Streit, bin ich eigentlich dazu gerufen zu zeigen, wie es richtig ginge. Ich darf mich ärgern und du darfst dich ärgern. Wir können das laut aussprechen. Ohne Stolpersteine. Wir dürfen uns auch Kritik zusprechen, ebenso und vor allem auch Lob und Anerkennung, denn durch sie ertragen wir die manchmal bittere Kritik viel leichter.
Zu jedem Streit gehört Versöhnung
Egal wie klein oder groß der Streit war, am Ende steht immer die Versöhnung. Meinem Mann und mir ist das sehr wichtig. Wir versuchen das auch unseren Kindern vorzuleben und somit beizubringen. Nicht immer sind beide Streithähne sofort bereit, sich die Hand zu reichen. Manchmal braucht man ein wenig Luft, um den größten Zorn etwas abzubauen, aber wir versuchen an der biblischen Weisheit festzuhalten: „Lasst die Sonne über eurem Zorn nicht untergehen.“
Bis zum Schlafengehen wollen wir uns versöhnt haben, denn keiner weiß, was morgen sein wird.
Da gehören dann die auf den Mond Geschossenen spätestens vor dem Zubettgehen wieder heruntergeholt. Sich die Hand zu reichen kostet manchmal auch Überwindung. Ich muss meinen Zorn und meinen Stolz überwinden. Reue über etwas kann ich von keinem erzwingen. Aber für meinen Teil, meine „Stolperer“ und meine lieblosen Worte, kann ich Verantwortung übernehmen und einen Schritt auf den anderen zugehen.
Und auch hier darf ich manchmal gespiegelt werden, wenn meine Kinder dann auch von selbst einen Schritt auf mich oder jemand anderen zugehen und sich für ihre Stolperer entschuldigen. Das ermutigt mich dann auch wieder, nicht nur im negativen Stolpern, sondern auch im Positiven gelegentlich Vorbild zu sein. Und ich darf weiter an dieser Streit- und Versöhnungskultur arbeiten.
Es ist immer noch ruhig hier. Nach solchen Streittagen gehe ich abends, wenn alles schläft, gerne kurz durch die Zimmer und schaue meinen Mäusen beim Schlafen zu. Ganz friedlich liegen sie in ihren Betten. Kaum zu glauben, dass ich mich heute ärgern musste. Solche Rundgänge versöhnen mich mit dem Ärger oder der Unruhe des Tages. Ich nehme mir vor morgen geduldiger zu sein, will versuchen auf Stolpersteine zu achten.
Ich mache mir nichts vor: Es wird harte Arbeit – Beziehungsarbeit. Aber es lohnt sich.