Wenn ein Baby kommt: Die nachgeburtliche Geschwisterkrise
Wenn sich ein neues Familienmitglied ankündigt, schlägt das Herz von allen Angehörigen plötzlich höher. Was für ein Abenteuer: Unser Kind bleibt doch kein Einzelkind. Unsere zwei Großen bekommen noch ein Geschwisterchen. Doch gerade bei vielen Müttern verwandelt sich die anfängliche Euphorie in erste Sorgen: Wie wird sich unser Leben verändern? Wie wird mein Kind damit umgehen? Wie schaffe ich den Alltag mit zwei (drei, vier…) Kindern? Kann ich mein(e) Kind(er) darauf gut vorbereiten und wie werde ich mit der Eifersucht auf das neue Baby umgehen?
Fragen über Fragen - aber eines ist klar: Die Familienstruktur wird sich verändern. Die Karten werden neu gemischt und wenn der Umgang mit den großen Geschwistern passt, wird der Grundstein für ein harmonisches und liebevolles Miteinander gelegt.
Wenn ältere Geschwister entthront werden
“Es ist wie ein Stich mitten ins Herz: meine Mama kuschelt mit dem neuen Baby. Sie lächelt es an, freut sich über seine Blicke und trägt es ununterbrochen im Arm. Das Baby wird gefühlt andauernd gefüttert, gewickelt oder in den Schlaf gewogen. Heute wollte ich meiner Mama ein Bild zeigen, das ich gemalt habe. Sie sagte, ich soll ein wenig warten, denn sie muss zuerst das Baby wickeln. Aber danach war das Baby unruhig und in dem ganzen Trubel hat sie mein Bild völlig vergessen. Und das war nicht zum ersten Mal!”
So, oder so ähnlich würde ein Kind den Alltag mit einem Neugeborenen beschreiben - wenn es die sprachliche Kompetenz dazu bereits hätte und genug (Selbst-)Reflexion mitbringen würde. Bedauerlicherweise können unsere Kinder noch nicht so klar und strukturiert denken, oder ihre Gedanken in Worte fassen. So wird die Ankunft eines neuen Geschwisterchens anfangs gefeiert, doch negative Gefühle lassen auf sich nicht lange warten.
Es fühlt sich an, als hätte man dem älteren Kind das Herz gebrochen.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ihr Partner/Ihre Partnerin kommt abends mit einem neuen Partner oder Partnerin nach Hause. Er/Sie stellt euch vor und erklärt Ihnen, dass sie von nun an zu dritt leben werden, weil er/sie euch beide aus ganzem Herzen liebt. Die Vorstellung ist völlig absurd, oder? Sie würden wahrscheinlich toben, schreien, weinen, es nicht fassen können oder sofort das gemeinsame Leben für beendet erklären und ausziehen. Unsere Kinder können das nicht. Dennoch fühlen sie sich ähnlich verletzt, wenn unsere Aufmerksamkeit plötzlich dem kleinen Baby gehört. Es tut weh und ältere Geschwister fühlen sich oft verunsichert und verängstigt, wenn sie in der neuen Situation einen neuen Platz innerhalb der Familien suchen.
Ein Geschwisterchen ist die erste große Lebensprüfung
Ein Geschwisterchen zu bekommen ist die erste große Lebensprüfung, die ein Kind durchzustehen hat. Eltern bekommen für diese Zeit meistens zwei Tipps, die als “die Lösung” aller Probleme präsentiert werden: Exklusivzeit für die älteren Geschwister einplanen und sie mithelfen lassen. Das ist zwar schön und gut, aber noch lange nicht ausreichend. Denn die Großen haben tatsächlich ein gebrochenes Herz und erleben zum ersten Mal ein richtiges Gefühlschaos.
Die Bedürfnisse erkennen
Ältere Geschwister können durch Kinderbücher auf die Ankunft des Babys vorbereitet werden. Das ist bestimmt ein spannendes Thema und es kann schon im Voraus den älteren Kindern zeigen, was sie erwartet, welche Aufgaben sie übernehmen können und vor allem, dass sie weiterhin eine wichtige Rolle in dieser Familie spielen werden. Dennoch ist es wichtig gerade nach der Geburt den Fokus auf die Bedürfnisse der Großen zu legen. Denn auch die beste Vorbereitung im Voraus ist nichts wert, wenn die Zeit danach vernachlässigt wird. Es ist dennoch nicht so kompliziert, wie man denken könnte:
Denn während viele Familien “Exklusivzeit” mit den Großen planen und dabei großartige Ausflüge, spannende Spielplätze oder einzigartige Veranstaltungen im Kopf haben, sind diese nicht notwendig und gerade viele Kleinigkeiten im Alltag werden entscheidend sein.
Wenn ein Baby kommt, müssen ältere Geschwister häufig warten, Aufgaben selber meistern, bei denen früher Mama geholfen hat und öfters alleine zurechtkommen. Die Großen werden nun tatsächlich groß und müssen gezwungenermaße zu mehr Selbstständigkeit finden. Gerade deshalb können im Alltag Spannungen entstehen: wenn das Kind darauf besteht von der Mama angezogen zu werden, obwohl es sich schon längst alleine anziehen kann. Oder wenn das Baby geärgert oder sogar gehauen wird, obwohl das Kind ganz genau versteht, dass es ein No Go ist.
Reaktion auf den Verlust der mütterlichen Nähe
Unzählige Situationen werden den Anschein erwecken, dass das einst so gut kooperierende Kind zu einem kleinen Kämpfer gegen seine Eltern geworden ist. Hier muss man sehr gut darauf achten, das Schimpfen und Ermahnen komplett aus dem Alltag zu verbannen.
Denn das Kind will uns nicht ärgern. Es will nur auf seine Art und Weise zeigen, dass seine Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Es zeigt sein gebrochenes Herz und seine tiefe Trauer darüber, dass nun die volle Aufmerksamkeit der Eltern nicht mehr ihm gehört.
Es ist eine Reaktion auf den Verlust der mütterlichen Nähe, die nun von einem Baby beansprucht wird. In dieser hochsensiblen Phase sollten ältere Geschwister keine Ablehnung seitens der Eltern erleben. Denn dadurch wird die nachgeburtliche Geschwisterkrise künstlich in die Länge gezogen. Sehen Eltern hinter dem unerwünschten Verhalten der älteren Geschwister eine tiefere Bedeutung, können sie leichter Verständnis für die Großen mitbringen und diese sicher durch die Krise begleiten, denen neue Wege aufzeigen und das Gefühl geben, gesehen und gehört zu werden.
Zeigt ein Kind also vermehrt unerwünschtes Verhalten, lohnt es sich hinter die Kulissen zu sehen: Wie oft habe ich heute zu ihm “warte kurz” gesagt? Wie oft sagte ich “jetzt nicht”? Wie oft konnte ich nicht helfen, mitspielen, Buch lesen? Summieren sind all diese Sachen im Alltag über einen längeren Zeitraum, gewinnt das Kind am Gefühl immer mehr in den Hintergrund zu rücken. Und im Kampf um die Aufmerksamkeit der Mama sind alle Waffen erlaubt. Auch wenn diese in den Augen der Erwachsenen unerwünscht sind. Für das Kind gilt: besser negative Aufmerksamkeit, als gar keine.
Folgende Verhaltensweisen deuten darauf hin, dass die Bedürfnisse der älteren Geschwister zu kurz kommen:
- das Kind haut - entweder seine Eltern, weitere Geschwister oder das Baby
- das Kind wird selbst zum Baby, redet in Babysprache, will getragen und gefüttert werden
- das Kind zieht sich zurück, nach Außen scheint es zufrieden zu sein, dennoch sucht es andere Ventile wie zB Nägelkauen, häufiges Nasebohren usw…
- das Kind provoziert und macht genau das, was Eltern nicht wollen
- das Kind beschimpft seine Eltern, sagt unschöne Sachen
- das Kind jammert und spricht überwiegend im nörgelnden Ton
- das Kind will immer gewinnen, Erster und Bester sein - in einem übertriebenen Ausmaß
- das Kind macht Sachen absichtlich kaputt, geht mit seinem Spielzeug grob um
Was tun, wenn die Großen toben?
In erster Linie muss man sich dessen bewusst werden, dass dies alles eine Reaktion auf die Geburt des Babys ist und die Ängste sowie Unsicherheiten des Kindes zum Ausdruck bringen soll. Es bedeutet nicht, dass unsere Kinder zu kleinen Tyrannen werden oder plötzlich gegen uns sind. Sie können sich nur nicht besser ausdrucken und verstehen ihre eigenen Gefühle auch selbst nicht. Somit ist es wichtig das Verhalten des Kindes nicht persönlich zu nehmen, nicht verbieten, bestrafen oder sogar ignorieren.
Das entthronte Kind muss spüren, dass es bedingungslos geliebt wird - egal wie es sich verhält. Klar muss man sich nicht alles gefallen lassen. Gerade bei aggressiven Kindern soll man direkt kommunizieren, dass wir in unserer Familie keine Gewalt dulden, dennoch muss man nach den wahren Ursachen suchen. Und immer nur das Verhalten kritisieren, nie das Kind als Ganzes. (“Dass du mich haust, ärgert mich” anstatt “Du ärgerst mich”.)
Muss das große Kind im Alltag viel zurückstecken?
Wird es oft vertröstet und gebeten zu warten? Auch wenn der Alltag mit einem Baby oft anstrengend ist, sollte man kurze Babypausen dennoch den älteren Geschwistern widmen, anstatt selbst zu entspannen. Es bringt wirklich viel und es lohnt sich, denn dadurch wird der Alltag entspannter. Die oft erwähnte Exklusivzeit kann aus vielen kleinen Momenten bestehen. Es hilft, wenn sich das Kind im Alltag gesehen fühlt. Klar haben gerade Mamas oft Bedürfnis nach viel Ruhe und Entspannung, wenn das Baby schläft. Wenn aber die Großen toben, dann brauchen sie viele kleine Momente im Alltag, die ihnen ihre Mama zurückgeben: Handy weglegen und im Sand buddeln, nicht auf der Couch liegen sondern Fangen spielen, gemeinsam zeichnen, reden, lesen… Quality Time anstatt große Erlebnisse - das bringt oft viel mehr.
Ein kleiner Trick, der gut funktioniert, ist, in Situationen, die es zulassen, dem Baby laut und deutlich zu sagen “du musst jetzt kurz warten, bis ich dem Großen geholfen habe”. Auch wenn das Baby in Wirklichkeit nichts davon versteht und gar nicht warten kann, signalisiert diese Aussage dem großen Kind, dass es ab und zu auch den Vorrang hat und nicht immer das Baby zuerst kommt.
Kann das Baby gerade gar nicht warten, kann man das große Kind auch mal vorausschicken (“...geh schon mal vor und bereite die Legokiste vor, damit wir gleich mit dem Spielen starten können.”) oder in die Situation mit einbeziehen (“Nimm ein Buch und setzt dich zu mir, wir lesen bis ich mit dem Stillen fertig bin.”). Schon solche kleinen Änderungen im Verhalten oder der Sprache können dem Kind das Gefühl geben, nicht dauernd warten zu müssen.
Anfangs bekommt man das Gefühl, die großen Geschwister brauchen viel mehr Aufmerksamkeit als vor der Geburt des Babys und das stimmt auch.
Anfangs muss man viel Zeit und Mühe investieren, aber gerade da ist es oft einfacher, da das Baby viel schläft und in einer Trage bei der Mama schon ganz zufrieden sein kann - ohne extra Unterhaltungsprogramm. Gerade in den ersten Monaten kann man den älteren Geschwistern viel Liebe und Nähe schenken, damit die Geschwisterkrise schnell überwunden ist. Bevor auch das Baby groß wird und viel aktive Zeit abverlangt. Denn all die Mühe wird sich lohnen und dafür sorgen, dass sich alle wieder zufrieden und sicher in ihrer Familie fühlen. Denn nur so ist ein harmonisches Miteinander möglich.