Mein Kind ist wütend. Ich bin wütend. – Was löst die Situation?
Wie Kinder mit ihren Emotionen umgehen, lernen sie von uns. In erster Linie ist es also wichtig, sich mit der eigenen Wut zu beschäftigen. Ich kenne viele Mütter und Väter, die in ihrem Aufwachsen nicht gelernt haben, wie Emotionen selbstständig sinnvoll reguliert werden. Sie berichten, dass diese „bösen“ Gefühle nicht erwünscht waren und lieber unter den Teppich gekehrt wurden, als sie als Hinweis für etwas zu sehen, dass im Moment nicht gut läuft; oder als Einladung, sich mit sich selbst oder miteinander auseinander zu setzen, oder als natürlichen Teil eines Prozesses wie der Frustrationstoleranz. Aber dazu noch später.
Was passiert bei Wut in unserem Körper?
Es ist auch nicht das Ziel, das Gegenteil von Unterdrückung zu tun und die Wut blindlings herauszulassen. Dann haben unsere Emotionen die Regie und wir haben die Kontrolle über uns an weniger reflektierte Teile unseres Gehirns abgegeben. An dieser Stelle werde ich nur ganz kurz auf die drei Teile unseres Gehirns und deren Funktion eingehen. Der jüngste Teil des Gehirns ist der Frontallappen, der dafür zuständig ist, in Konsequenzen zu denken, zu reflektieren und in dem die Fähigkeit sitzt, alternative Handlungsabläufe zu entwickeln. Im limbischen System „wohnen“ unsere Emotionen und unsere kindlichen Prägungen. Dort sitzen auch die Amygdalae, unsere Security sozusagen, die die Umgebung über unsere Sinne nach Gefahren abscannen. Wobei hier wichtig zu erwähnen ist, dass die Bedeutung von „Gefahr“ aufgrund von persönlich gemachten und gespeicherten Erfahrungen und Aufwachsen sehr individuell sein kann. So ist zum Beispiel für den einen ein Skifahren abseits der Piste ein No-Go und für den anderen ein Must-have; deswegen gibt es z.B. Impfbefürworter und Impfgegner. Gleiche Sache – andere Bedeutung. Im Stammhirn, dem ältesten Gehirnteil, beheimatet überlebenswichtige Funktionen wie Atmung und Herzschlag, als auch die Fähigkeit, andere Menschen und deren Absicht zu „lesen“. (Wer sich näher mit dem Gehirn beschäftigen möchte und damit, was im Gehirn bei emotionaler Überflutug passiert, dem lege ich zB Dan Siege’s Buch „Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen“ ans Herz).
Wut kommt auf, was tun?
Wenn nun ein Reiz von außen kommt, der mich wütend macht, spüre ich das zu allererst im Körper. Im Idealfall verbinden sich nun mein emotionales Zentrum mit meinem rationalen Zentrum, und ich bin in der Lage, mich gut in Balance zu halten und zu kommunizieren. Schauen wir uns ein Beispiel an:
Wir kommen nach dem Spielplatz und nach dem Einkaufen endlich müde nach Hause. Ich gebe meinem dreijährigen Sohn mein Handy, damit er Fotos anschauen kann, und ich nach einem langen Tag kurz in Ruhe die Einkäufe wegräumen kann. Ich erkläre ihm (wie immer), dass er gut aufpassen möge und mache mich an den Einkauf – und höre nach fünf Minuten einen Zornesschrei und sehe noch aus den Augenwinkeln, wie mein Sohn das Handy auf den Boden wirft. Was mache ich jetzt, wenn ich spüre, wie aus dem Oberbauch-Raum die „Welle“ hochsteigt, ich einen roten Kopf bekomme und merke, dass ich leicht zu transpirieren beginne?
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit. (Viktor Frankl)
Wie reagiert man richtig?
Wenn es mir nicht gelingt, diesen Raum zu finden, dann werde ich das tun, was ich von meinen Bezugspersonen meiner Kindheit gelernt habe. Also entweder werde ich schreiend wie eine Furie auf mein Kind zustürzen und mich um mein Handy kümmern. Jetzt kann ich ihn beschuldigen und ihm die Verantwortung zu schieben, ihn beschämen und bestrafen. Und die meisten von uns werden sich schon währenddessen nicht gut fühlen.
Ich kann auch (automatisch) so tun, als ob ich gar nichts fühlen würde. Ich ignoriere also sowohl meine Regungen, als auch die meines Kindes und reagiere eigentlich gar nicht während ich den Einkauf wegräume. Eigentlich verlasse ich dabei meinen Körper, mich selbst und mein Kind und bin in einer Art Trance, in der ich alles erledigen kann, aber nicht anwesend bin. Ich bin dissoziiert.
Für Entlastung sorgen
Wenn ich den Raum finde, dann gilt es hier die gleiche Regel wie in der Notaufnahme anzuwenden: Fühlen Sie zuerst den eigenen Puls. Im Idealfall habe ich aber auch schon DAVOR für mehr Entlastung und Entspannung gesorgt, weil ich weiß, was passiert, wenn mein Kind und ich beide müde und erschöpft sind. Ich gehe dann gar nicht mehr einkaufen, oder lasse den Einkauf für später stehen oder rufe meinen Mann an und bitte ihn, das zu erledigen.
Zuerst sich selbst zu stabilisieren, die persönliche Angst zu „parken“ – um dann zu tun, was zu tun ist, nämlich dem Kind in seiner Not beizustehen.
Ich nehme also wahr, was in mir emotional passiert. Vielleicht stelle ich mir auch vor, wie ich automatisch und am liebsten jetzt handeln würde: „Ich schmeiß jetzt die ganzen Sachen hin und gehe und komme nie wieder nach Hause! Sollen sie doch alle schauen, wo sie bleiben!“ Und Sie können sich in Ihrem Kopfkino auch gehen sehen. Wichtig ist aber jetzt, was Sie nach dem Film tun, wie Sie Ihrem Ärger Luft machen, wie Sie die Welle surfen, wie Sie jetzt Ihr Frontalhirn aktiv benutzen. Dabei hilft atmen! Und dann, erst wenn man wieder denken kann, die Verantwortung übernehmen und bei einem lassen, um das Kind kümmern und um das, was in ihm vorgeht. Das ist Ihr Job als Mama: Zuerst sich selbst zu stabilisieren, die persönliche Angst um das Handy zu „parken“ – um dann zu tun, was zu tun ist, nämlich dem Kind in seiner Not beizustehen: „Na, da hast du dich jetzt aber ärgern müssen! Was ist passiert?“ Vielleicht schreit er noch wild herum und tobt.
Seine Emotionen haben ihn jetzt fest im Griff. Er braucht jetzt Sie, als Fels in der Brandung, der nicht von seiner eigenen Wut gekidnappt wurde, damit er wieder frei wird und „zu sich kommt“. Und wenn Ihr Sohn schon in der Lage ist, sein Sprachzentrum zu aktivieren, bekommt man vielleicht auch eine Erklärung, und er kann seine Geschichte erzählen und seinen inneren Prozess zu Ende führen. Und dann ist er vielleicht so erschöpft, dass er einschläft und man muss den geplanten Ablauf ändern und ihn ungewaschen und ohne Zähneputzen ins Bett legen. Und dann, dann kannst können Sie sich fragen, wie es Ihnen geht und ob Sie zufrieden sind – und was mit dem Handy los ist.
Tägliche Herausforderung
Das war jetzt ein Beispiel – und die Realität ist oft noch viel herausfordernder! Ich erinnere mich an solche Szenen mit dem Unterscheid, dass ich noch zwei weitere müde Kinder an meiner Seite hatte und ich sehr oft diesen Raum nicht mehr finden konnte und meine Flexibilität und meine Grenzen hart auf die Probe gestellt waren. Ich war an manchen Abenden mehr als unzufrieden mit mir als Mutter und Mensch, weil es mir nicht gelungen war, bei mir zu bleiben, wenn andere außer sich waren. Diese Unzufriedenheit mit mir selbst lies mich auch ins Handeln kommen und der erste Schritt war ein Selbst-Verständnis durch Selbst-Erforschung meiner Biografie. Dadurch konnte ich ein Mitgefühl für mich entwickeln und anerkennen, dass ich vieles noch nicht gelernt hatte und dass ich dazu neigte, auf meinen Puls zu vergessen. Mich voran zu stellen, zu mir selbst Ja zu sagen, um Hilfe zu bitten, mich zu spüren und ernst zu nehmen, mich zu entspannen, waren nur einige Schritte auf diesem Weg.
Wie geht man mit der eigenen Wut um?
- Innehalten
Wenn Wut und Aggression ein Ausdruck davon sind, dass etwas nicht in Ordnung ist, dann braucht es ein Innehalten und eine Zuwendung. Als Erwachsene kann ich mich selbst fragen, was ich brauche oder was mir fehlt. Ich kann nicht erwarten, dass ich automatisch gefragt werde. Ich kann mich aber meinem Partner mitteilen, ihm sagen, dass ich unrund laufe und nicht weiß, warum. Vielleicht weiß er etwas? Ich kann mir auch Unterstützung in Form eines Coaches holen. Ein Kind darf sich das erwarten. Es darf sich erwarten, dass ihm bei der Selbsterforschung beigestanden wird, dass wir ihm helfen, Worte, Wege und Lösungen zu finden. Dass wir als Eltern „Coaches“ sind, die durch unsere Zuwendung, durch Raumgeben, helfen, Neues zu erschließen.
- Zu sich selbst stehen
Was mir auch geholfen hat, war ein Verstehen, was bei der Frustrationstoleranz passiert. Dazu musste ich mir aber erst erlauben, zu mir und zu dem was ich will, ja zu sagen, auch wenn das bedeutet, einen geliebten Menschen zu enttäuschen. Ich musste also den Ort erst einmal finden, wo mein JA und mein NEIN wohnen, damit ich, wenn meine Kinder mit ihren Wünschen auf mich zukamen, eine Antwort finden konnte. Wie oben beschrieben gehörte ich eher zu dieser Sorte Mensch, die im Zweifelsfall immer Ja zum anderen sagen. Das ist genau so ungesund, wie immer Nein zu sagen. Wenn Eltern diesen Ort in sich kennen, und sich zu ihrem Nein bekennen können, dann bekommen Kinder nicht das, was sie sich wünschen, aber das, was sie zum Großwerden brauchen, nämlich Eltern, die sich selbst ernst nehmen und damit Orientierung geben; und sie bekommen Eltern, von denen sie sich auch ernst genommen fühlen, weil sie sich und ihren Kindern zumuten, den Prozess der Frustrationstoleranz zu meistern.
Wie geht man mit der Wut der Kinder nun um?
Würden sich nach einem „Ja! Klar! Bekommst du!“ gleich Ruhe und Zufriedenheit ausbreiten, kommt nach einem Nein erstmal der Kampf – so schnell geben sich unsere Kinder nicht geschlagen! Und dann heißt es (je nach Alter): „Aber…..!“ oder „Warum nicht?“ (Vorsicht! Tappen Sie nicht in die Erklärungsfalle in der Hoffnung, dass wenn man genug erklärt, das Kind sagt: „Ah! Na, wenn das so ist, dann brauch ich das wirklich nicht!“)
- Schlechtes Gewissen nicht zulassen
Unsere Kinder sind erstens sehr ausdauernd und zweitens kennen sie uns so wahnsinnig gut, dass sie genau wissen, was sie sagen müssen, damit wir doch noch nachgeben. Sie haben quasi einen Schwachstellendetektor und spielen mit unserem schlechten Gewissen! Dem müssen wir widerstehen – und dabei werden wir ganz genau beobachtet und „gelesen“, ob es noch eine Chance gibt. Wenn nicht, dann fühlen sie es, die Frustration und die Enttäuschung. Das sind keine guten Zustände und dementsprechend werden sie damit umgehen und versuchen, diese irgendwie loszuwerden (viele Erwachsene beginnen sich dann zu beruhigen, indem sie sich einreden versuchen, dass es so ohnehin besser sei etc. Das können unsere Kinder noch nicht.)
- Trauer der Kinder
Danach kommt die Trauer über das Nichtbekommene. Und auch die muss irgendwie verarbeitet werden. Oft wenden sich unsere Kinder dann wieder an uns, und wollen Trost. Davor mögen sie uns allerdings gar nicht – sind wir doch Auslöser des Unglücks! Das müssen wir alles als Eltern halten und begleiten können und auch dafür gilt, zuerst uns in emotionale Sicherheit zu bringen, damit uns das gelingt. So bedarf es manchmal auch ein Verlassen der Situation mit dem Kind gegen den Willen des Kindes (eine weitere Frustration also). Da gilt es abzuwägen, ob ich mein Kind nach Hause trage, weil ich dort ruhig werden kann, dafür muss ich mit der doppelten Portion an Frust umgehen und die Grenzen meines Kindes buchstäblich in die Hand nehmen. Oder ob ich in der Lage bin, mich auch in unbequemen Situationen (wie am Spielplatz, wenn einen dann alle anderen Mütter anstarren und taxieren) selbst beruhigen (lernen) kann und mir mit der Zeit die anderen egal werden und ich einfach meinen Job als Mutter mache.
- Unerklärliche Wut benötigt Hilfe
Wenn ein Kind aber aus scheinbar unerklärlichen Gründen immer wieder wütend wird, und alle meine Strategien und Learnings nicht mehr helfen und greifen, dann braucht es was Neues. Einen Familienrat, eine professionelle Begleitung ein genaueres Hinschauen, was die Wut sagen will. Diese persönlichen Antworten sind leider in keinem Ratgeber zu finden. Anleitend kann ich Ihnen schreiben, dass Kinder auf die Atmosphäre innerhalb der Familie reagieren – Sie können sich also fragen, ob es etwas mit Ihnen selbst (Ihrer eigenen Unzufriedenheit) zu tun hat, und/oder mit Ihrer Beziehung. Auch die Umwelt ist wichtig, besprechen Sie es mit Ihrem Kind, wie geht es z.B. im Kindergarten geht? Bringt es von da etwas Unerledigtes mit? Und ich lade immer ein, sehr genau hinzuschauen, den „Geist“ (Mind) des Kindes zu lesen (Sie erinnern sich, das ist eine Fähigkeit des Stammhirns), und zu erfassen, was Ihr Kind mit seinem Verhalten im Sinn hat.
- Grenzen achten
Bitte beachten Sie auch, wenn Sie Ihr Kind wütend machen, indem Sie seine Grenzen missachten und SIE der Auslöser für Unmut sind. Oft ist gut gemeint nicht gut getan. Unsere Kinder werden wütend, wenn wir wollen, dass sie unsere Emotionen managen sollen („Bekomm gute Noten dann fürchte ich mich nicht vor der Zukunft!“) oder wenn wir Ihnen unaufgefordert (mit guten Ratschlägen) helfen in der Hoffnung, dass es ihnen (oder uns?) dann besser geht: „Ich zieh dich an, dann bist du schneller! Du kannst das noch nicht so gut!“ Das gilt übrigens auch für Erwachsene! 🙂
Zusammenfassend möchte ich den Philosophen Martin Buber zitieren, der sagt: „Es gilt einzig allein bei sich selbst zu beginnen.“ Das ist nicht Egoismus, das ist geliebte Selbstfürsorge um Vorbild zu sein.