Der Wert des Gehorsams - heute wert-los? (Teil 1)
Gedanken zu einem der wohl größten Missverständnisse der Christenheit.
Gehorsam war früher das A und O der Kindererziehung. Heute hingegen wird das Wort misstrauisch beäugt. Warum das Konzept von Gehorsam trotzdem noch zeitgemäß ist.
Geschichtlicher Rückblick: Erzwungener Gehorsam
Sowohl im christlichen Kontext als auch im kulturellen Kontext wurde Gehorsam für lange Zeit als ein sehr wichtiger Wert erachtet. Wenn ich an das Wort Gehorsam denke, habe ich ein tiefklingendes Wort in dunklen Farben vor meinem inneren Auge.
Es ist bedrohlich.
Andere Wörter schwingen darin mit: Zwang. Furcht. Gewalt.
Woher kommt das?
Da ich gewaltfrei erzogen wurde, vermute ich, dass dies die Begleitvorstellungen sind, die mir gesellschaftlich zum Wort Gehorsam vermittelt wurden. Durch Bücher, den Geschichtsunterricht zum 2. Weltkrieg (Stichwort “Gehorsam zum Vaterland”), durch Aussagen anderer Menschen und ja, ich denke auch durch (missverstandene) Bibellehre.
“Ihr Kinder, seid euren Eltern gehorsam”, steht in der Bibel geschrieben (vgl. Eph 6,1 und Kol 3,20). Bei mir als Kind kam an: Ich MUSS tun, was meine Eltern sagen. Ich darf nicht selbst entscheiden. Meine Bedürfnisse, meine Meinung, meine Gefühle sind unwichtig. Meiner Wahrnehmung nach ist das auch der Tenor der “weltlichen” Auffassung von Gehorsam. Gehorsam war lange Zeit so wichtig, dass jeder Zweck die Mittel heiligte, auch körperliche oder psychische Gewalt, Drohungen, Liebesentzug und Zwang. All das mit der guten Absicht, die eigenen Kinder zu Gehorsam zu erziehen.
Aktuelle Gesellschaftsbeobachtung: Gehorsam wird abgelehnt
Gesellschaftlich lässt sich beobachten, dass ein Extrem in einer Generation oft zu einem extrem gegenteiligen Verhalten in der nächsten Generation führt. Das Pendel schwingt zurück. So auch hier: Der extreme Fokus auf Gehorsam, der wohl auch durch die Weltkriege geprägt war, führte zu einer starken Ablehnung des Konzepts von Gehorsam in den nächsten Generationen. Das lässt sich beispielsweise an dem starken Aufkommen antiautoritärer (liberaler) Erziehungskonzepte in den 1960iger und 1970iger-Jahren erkennen.
Doch die liberale Erziehung führte nicht zu den Ergebnissen, die man sich erhofft hatte. Das Pendel schwingt weiter und so versuchen Erziehungswissenschaft und Eltern heute nach wie vor, einen guten Weg zwischen diesen beiden Extremen zu finden. Ein Beispiel: Das Konzept der “Neuen Autorität” nach Haim Omer, dass Möglichkeiten eines zwang freien Ausübens von Autorität und Führung beschreibt. Die grundsätzliche Ablehnung gegenüber dem Konzept und dem Wort “Gehorsam” aber sind uns aber geblieben.
Hinterfragt: Verstehen wir das Wort Gehorsam richtig?
Je mehr ich mich mit diesem Thema beschäftigte, desto mehr kam ich zu dem Schluss: Unsere Auffassung von Gehorsam als einem erzwungenen und erzwingbaren Dienst des Schwächeren könnte wohl eines der größten Missverständnisse zwischen Gott und den Menschen sein. Ich forschte nach, was die Bibel zu Gehorsam sagt, und kam zu dem Schluss, dass die Art und Weise, wie wir Gehorsam verstehen und leben, NICHT mit dem übereinstimmt, wie der Wert des Gehorsams in der Bibel definiert wird.
Fasziniert las ich weiter.
Gehorsam - konnte das wirklich etwas Gutes sein?
Nicht nur etwas, das ich widerwillig als von Gott gewollt akzeptieren musste, sondern ein Konzept, das ich gerne und mit offenen Armen willkommen heißen könnte? Hat die Bibel gar die Antwort parat auf diese brennenden Fragen der Zeit; auf die Frage, wie eine gesunde Balance zwischen autoritärer und liberaler Erziehung in der Erziehung gefunden werden könnte?
Das biblische Konzept von Gehorsam
Ich kam zu dem Schluss: Ja, das hat sie! Biblisch gesehen ist es gut und gottgewollt, wenn Eltern ihre Kinder Gehorsam lehren wollen - aber nicht durch Zwang. Genauso wie Liebe und Vertrauen kann auch Gehorsam nicht erzwungen, sondern nur aus freiem Willen gegeben werden. Wenn Eltern also versuchen, ihre Kinder durch Zwang zum Gehorchen zu bringen, lehren sie ihnen de facto nicht Gehorsam, sondern Zwang.
Ja, Gott will Gehorsam! Gehorsam ist ein guter Wert und ja, wir SOLLEN unsere Kinder Gehorsam lehren. Wir merken schließlich alle im Familienleben, dass ein Familiensystem nicht funktionieren kann, wenn jeder nur das tut, was er will. ABER. Und das ist ein großes ABER: Nicht durch Zwang.
Gott liebt Gehorsam, denn Gehorsam bedeutet, dass wir ihm genug vertrauen, um innerlich überzeugt davon zu sein, dass SEIN WILLE für uns IMMER das Allerbeste sein wird. Vom Anfang der Geschichte an wählte Gott, dem Menschen seinen Willen nicht aufzuzwingen. Stattdessen gab er dem Menschen das Geschenk des freien Willens - um eine echte Beziehung zwischen ihm und dem Menschen möglich zu machen.
Gott wählte Beziehung statt Diktatur
Dadurch, dass Gott dem Menschen DIE WAHL gab, wählte Gott Beziehung und Liebe statt Diktatur und Zwang. Das ist der Grund, warum Gott einen Baum ins Paradies setzte (vgl. 1. Mose 2,9), von dem die Menschen nicht essen sollten. Nicht etwa, um sie zu verführen, sondern um ihnen eine Wahl zu geben und damit eine Beziehung zum Menschen zu ermöglichen.
Denn Gott wünscht sich eine Beziehung zum Menschen. So unglaublich es auch klingt, so wahr ist es doch: Der Gott, der Himmel und Erde schuf, interessiert sich für dich und mich. Gott wünscht sich eine Beziehung zu dir und zu mir, dass sagt er uns in seinem Wort, der Bibel. Und so, wie Gott sich eine Beziehung zu uns Menschen wünscht, wünschen auch wir Eltern uns eine Beziehung zu unseren Kindern.
Implikation für die Elternschaft
Wir Eltern dürfen Gottes Beispiel folgen und Beziehung statt Diktatur wählen und Wertschätzung gegenüber Gottes Geschenk des freien Willens anstatt Zwang.
(Hiervon auszuschließen sind selbstverständlich jene Situationen, in denen Eltern zum Schutz der Kinder Zwang und Gewalt anzuwenden verpflichtet sind - beispielsweise, um ein Kind rasch von der Straße zu tragen, bevor der heranfahrende Laster es überrollt. Die Grundmotivation hinter unserem Handeln sollte jedoch in jedem Fall die Liebe zum Kind sein - jene Liebe, die das Beste des anderen sucht.)
Abgrenzung zur liberalen Erziehung
Befürworte ich damit eine liberale Erziehung? Nein, denn ich spreche nicht von einer Erziehung ohne Grenzen - das wäre alles andere als biblisch - sondern von einer grenzen-setzenden Erziehung in Beziehung. Einer Erziehung, die wertschätzend anerkennt, dass das Gegenüber ein eigenständiger Mensch mit eigenem Willen ist; ein Mensch, der (altersgerecht) eigene Erfahrungen machen muss, um zu lernen, aus eigenem Antrieb heraus das Richtige und Gute zu tun.
Doch wie ist es möglich, unseren Kindern freiwilligen Gehorsam zu lehren und was können wir darüber von Gott lernen? Darum geht es im zweiten Artikel dieser Reihe.