Erziehungsmodelle im Überblick – Die Pikler-Kleinkindpädagogik

Im Gespräch mit Mag. Pichler-Bogner von der Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich.

Die Pikler-Kleinkindpädagogik geht auf die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler zurück, die durch intensive Beobachtungen von Kindern erkannte, was heutzutage durch Studien belegt ist. Im Dialog mit dem Säugling und Kleinkind - vor allem bei Pflegehandlungen - wächst eine für die weitere Entwicklung wichtige und tragfähige Beziehung.

„Wir stärken Eltern, indem wir sie unterstützen, die Signale und Bedürfnisse ihrer Kinder in den unterschiedlichen Entwicklungsetappen immer besser wahrnehmen und entsprechend beantworten zu können.“, so Pichler-Bogner von der Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich.

Aufgebaut ist die Pikler-Kleinkindpädagogik auf vier Säulen. Auf der „beziehungsvollen Pflege“, der „autonomen Bewegungsentwicklung“, dem „freien Spiel“ und der „geduldigen und klaren Führung durch den Erwachsenen beim sozialen Lernen“.

Die beziehungsvolle Pflege:

Alle Tätigkeiten der Säuglingspflege wie Füttern, Wickeln, Baden und Anziehen werden in der Pikler-Kleinkindpädagogik dazu genutzt, um mit dem Säugling eine gute Beziehung aufzubauen. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, das Erleben liebevoller Zuwendung während der Pflegezeiten schenkt dem Säugling emotionale Sicherheit und Sättigung, um sich auch allein gut beschäftigen zu können. Indem die vorgesehenen Tätigkeiten angekündigt werden, erlebt sich das Kind als wertgeschätztes Gegenüber. Es erhält die Möglichkeit, mitzuwirken und sich als kooperativ zu erleben. Dadurch wird die Grundlage für Eigeninitiative und selbständige Aktivitäten gelegt.

Ein Beispiel aus der Praxis:

Wenn ich einem eineinhalbjährigen Kind zwei T-Shirts anbiete und frage „Möchtest Du heute das T-Shirt mit der Micky Maus oder das mit den Blumen anziehen?“ hat es eine überschaubare Anzahl konkreter Möglichkeiten zur Auswahl und erlebt, dass seine Entscheidung willkommen ist. So kann es die Pflegehandlung mitgestalten und wird zu einem Partner, dessen Mitwirken erwünscht ist.

Die autonome Bewegungsentwicklung:

Die Pikler- Kleinkindpädagogik geht davon aus, dass gesunde Kinder die Fähigkeit mitbringen, ihre Bewegungsentwicklung selbstständig voranzutreiben. Daher ist es weder nötig noch gut in ihre Entwicklung einzugreifen, indem wir sie in Positionen bringen, die sie von sich aus noch nicht einnehmen können.

Im Laufe der Bewegungsentwicklung lernen Säuglinge, „sich selbst zu beschäftigen sowie Schwierigkeiten alleine zu überwinden.“, meinte Emmi Pikler. Durch verschiedene Übergangspositionen erarbeiten sie sich beispielsweise das freie Sitzen sowie das Aufstehen und Gehen selbst, indem sie so lange üben, bis sie das eigene Gleichgewicht in den neuen Positionen gefunden haben.

Jedes Kind entwickelt sich dabei in seinem individuellen Tempo.

Hier gibt es oft große Unterschiede, einige Kinder machen mit einem Jahr ihre ersten Schritte, andere mit 20 Monaten. Jedes gesunde Kleinkind entwickelt diese Fähigkeit selbstständig und mit einer Sicherheit und Qualität, die sich positiv auf das Selbstbewusstsein auswirkt. Denn die Erfahrung, es selbst geschafft zu haben, stärkt die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten.

Das freie Spiel:

Im freien Spiel den eigenen Impulsen nachgehen zu können, ist die Basis für erlebte Zufriedenheit. Auch ermöglicht es Kindern die Erfahrung von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit. Ermöglicht wird dies durch eine vorbereitete Umgebung, die entwicklungsgerechte Materialien anbietet, sowohl für die Bewegungs- wie auch für die Spielentwicklung. Eltern und Betreuer sind aufmerksam dabei, animieren aber nicht, sondern erfreuen sich an den Aktivitäten der Kinder und mit ihnen.

Die Spielentwicklung hat sehr klare Entwicklungsphasen. Die Beobachtung des Kindes dient dem Ziel, die Umgebung entsprechend den Entwicklungsschritten anreichern zu können. So beschäftigt sich z. B. ein Säugling am Anfang nur mit einem Gegenstand, infolge kann er zwei und anschließend mehrere Gegenstände in Beziehung zueinander bringen. Dann braucht es natürlich mehrere und unterschiedliche Materialien, um dem Bedürfnis zu sammeln, zu sortieren, Reihen zu bilden oder zu bauen, nachgehen zu können.

Auch unterstützt das freie Spiel die Selbstregulation, wie Emmi Pikler in wissenschaftlichen Untersuchungen herausfand. Im freien Spiel durchlaufen Kinder vier Aufmerksamkeitsphasen. Eine davon ist die Erholungs- und Ruhephase. Ein Kleinkind erholt sich zum Beispiel auch, wenn es vom Sitzen wieder ins Krabbeln kommt, also die Position verändert. Wenn Kinder ihren natürlichen Impulsen nachgehen können, kommen sie durch den selbst regulierten Wechsel ihrer Aufmerksamkeit in der selbstständigen Aktivität zur Ruhe. Sie erfahren sich als kreativ und entwickeln Ausdauer und Zufriedenheit.

Geduldige und klare Führung durch den Erwachsenen beim sozialen Lernen

Im Alltag geht es darum, eine Balance zu schaffen zwischen der Aufgabe „Raum zu geben für Entwicklung von Autonomie“ und „Erziehungsverantwortung zu übernehmen“ in Bereichen, in denen Kleinkinder mit der Verantwortung überfordert wären, erklärt Pichler-Bogner im Gespräch. „Wenn sich Kinder verstanden fühlen, kooperieren sie gerne und erleben sich gleichzeitig als wertvoll.“ Dies führt zu einem friedlichen Zusammenleben.

Ein Beispiel aus der Praxis:

Ein 18 Monate altes Kind beginnt den Blumentopf auszuräumen. Wenn ich es ihm mit den Worten „Lass das, das darfst du nicht!“ verbiete, fühlt es sich in seiner Neugier, seinem Forschergeist abgelehnt. Um sein Bedürfnis zu befriedigen und herauszufinden, ob der Erwachsene es ernst meint, wird es weiter in der Erde graben. Dadurch kann schnell ein Machtkampf entstehen. Wenn ich jedoch Verständnis zeige, indem ich sage „Du kannst gerne im Garten/am Spielplatz mit Sand und Erde spielen. Nur hier kann ich es nicht erlauben.“, fühlt es sich ernst genommen und lernt durch meine geduldige Begleitung freiwillig zu kooperieren. Gleichzeitig erfährt das Kind, dass ich meine Erwartungen ernst nehme und darauf vertraue, dass es kooperiert. Dadurch werde auch ich ernst genommen.

Selbständige Aktivität in Bewegung und freiem Spiel sowie Selbstwirksamkeit und Kooperation stärken das Selbstbewusstsein und die Selbstregulationsfähigkeit von Kindern. Sie erleben sich als jemand, der Ideen hat, neugierig ist, am Leben teilnimmt, Situationen alleine bewältigen, kooperieren und seine Gefühle immer besser selbstregulieren kann.

Weiterführende Informationen zur Pikler-Pädagogik:

Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich
Mag. Daniela M. I. Pichler-Bogner
A-1020 Wien
https://pikler-hengstenberg.at

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Portraitfoto Regina Madgalena Smrcka

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