Legasthenie – Was stimmt nicht mit meinem Kind

Sie hatte so lustige Wortkreationen, unsere Tochter! Pingulin statt Pinguin und Spigotten statt Biskotten… Zauberhaft. Da war die Kleine etwa 5 Jahre alt. Dass uns der Weg nun, 6 Jahre später, zu einer Legasthenie-Therapeutin führt, hätten wir nicht erwartet.

Das wird sich schon geben – tat es aber nicht

Als mir in der 3. Klasse Volksschule auffiel, dass etwas am Lesetempo meiner Tochter, ihrer Art sich auszudrücken, zu schreiben, etwas Gelesenes oder Erlebtes in logischer Reihenfolge nachzuerzählen, nicht ihrem Alter entsprechend stimmen kann, tat das der Lehrkörper erstmal so ab: „Das wird sich schon geben. Machen Sie sich keinen Kopf, das ist ganz normal.“ War es aber nicht. Und ich habe mich damit auch nicht zufriedengegeben. Jeden Abend vor dem Schlafengehen haben wir Lesen geübt und mache es noch heute. Ein spannendes Buch mit großer Schrift, ein paar Sätze ich – ein paar Sätze du. Und jetzt wir gemeinsam, mit ein bisschen Tempo und richtig. Es war für uns beide nicht bloß mühsam, es war eine Qual.

Sie verdrehte Buchstaben, sie ließ Worte oder Wortteile aus, sie las, was gar nicht am Blatt stand.

Sie erfand Wörter. Wenn ein Wort mit „we…“ begann, las sie z.B. „wegen“ statt „weil“ oder „wenig“.  Sie verlor die Zeile, sie schweifte ab, war nicht bei der Sache. Eine halbe Seite gemeinsames Lesen aus dem Kinderbuch strengte sie unheimlich an. Bis heute stottert sie beim Lesen, holt nach jedem Wort Luft, um genug Zeit zum Enträtseln des nächsten Wortes zu haben. Und natürlich wurde und wird sie recht schnell wütend, wenn‘s nicht gelingt – auf sich selbst, auf mich, auf jeden, der sie zum Lesenüben drängt. Was man nicht gut kann, macht man eben nicht gern. Verständlich, doch so kann’s nicht weitergehen!

Der erste Elternsprechtag war ernüchternd

Erschwerend hinzu kam ein Lehrerinnenwechsel in der 3. Klasse. Und die neue Pädagogin gab sich der Klasse gegenüber mehr als Freundin denn als Lehrkraft – folgenschwer für unsere Tochter. Es herrschten kaum Regeln und kaum Respekt. So wurschtelte jeder dahin, wie er wollte. Die einen besser, die anderen schlechter.

Der erste Elternsprechtag bei ihr war ernüchternd. Auf meine Frage, ob ihr aufgefallen sei, dass meine Tochter sich beim Lesen sehr schwertue, dass sie doch recht holprig und langsam lese, sagte sie: „Nein, mir ist nichts dergleichen aufgefallen.“ „Ja, wie lesen denn die anderen Kinder in der Klasse. Lesen sie flüssiger, schneller als meine Tochter?“ fragte ich nach. Und dann kam‘s: „Das weiß ich nicht, wir lesen nicht laut in der Klasse.“ Waaaas?? Wie bitte? Ich habe ihr versucht zu erklären, dass das Lesenlernen doch das Um und Auf in der Volksschule ist.

„Wieso wird denn nicht laut gelesen? Woher wissen Sie, wie gut die Kinder darin sind, wo es Probleme gibt?“ Und dann antwortete sie: „Es ist nie ruhig in der Klasse, wenn einer vorlesen soll. Dann lachen alle. Dann ist es zu laut, drum lassen wir es und lesen leise, jeder für sich.“ Darf das wahr sein? „Aber es ist doch Ihre Aufgabe als Pädagogin, dass die Klasse ruhig ist, wenn einer liest!“ Es half alles nichts. Sie wechselte das Thema.

Als ich abends in der WhatsApp-Elterngruppe fragte „Wie findet ihr es, dass im Unterricht nicht laut gelesen wird? Ich bin ziemlich sicher, meine Tochter hat schwere Leseprobleme“, kam ein Shitstorm zurück - auf mich! Ich solle die neue Lehrerin doch erstmal ankommen lassen in der Routine des Unterrichts und ihr nicht gleich Vorwürfe machen.

Eine Mutter jedoch schrieb mir privat eine sms. Ihrem Sohn gehe es ebenso. Und es gäbe in der Schule eine Lehrerin, die Lese-Nachhilfe anbietet in Form von Lese-und Buchstaben-Spielen. Tja, und genau diesen Tipp hätte ich mir von unserer Lehrerin erwartet!

Wohin soll man sich denn wenden als Elternteil eines Lese-Rechtschreibschwachen Kindes, wenn nicht an die Schule? Wer hilft einem denn sonst?

Zumindest eins habe ich von diesem Nachmittagsunterricht in Sachen Lesenachhilfe mitgenommen, nämlich dass durchs Spielen eine Menge mehr im Kopf der Kinder bleibt als durch bloßes Üben. Damit zwingt sich jedes Familienmitglied so lange zu etwas Lästigem, bis die Nerven bei allen schon beim Gedanken ans Üben blankliegen. Ich suchte online Rat und las alles, was ich zum Thema Leseschwäche finden konnte. Und so kam ich auch zum Schlagwort Legasthenie und zu LRS, also Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Als Legasthenie bezeichnet man eine spezielle Lese-Rechtschreibproblematik, die genetisch bedingt und nicht auf mangelnde Intelligenz oder Lernbereitschaft zurückzuführen ist * , schreibt Mag. Evelin Harfmann, Trainerin für Legasthenie und Dyskalkulie auf ihrer Homepage.

„Genetisch bedingt.“ Aha.

Im Gespräch mit unserer heutigen Legasthenie-Therapeutin erkenne ich plötzlich Zusammenhänge. Offenbar spielt Vererbung auch bei uns eine Rolle. Mein ganzes Leben lang kämpfe ich mit den Zahlen. Ich liebe Buchstaben, aber mit Zahlen kann ich nichts anfangen. Meine Tochter verdreht die Buchstaben, ich die Zahlen.

Da stellte sich mir die Frage:  Hätte ich ihre Schwäche schon früher erkennen können?

Anzeichen im Vorschulalter: *

  • Das Kind hatte keine oder nur eine verkürzte Krabbelphase
  • Die Körperkoordination ist schlecht
  • Das Kind hat Probleme beim Spracherwerb und bei Reimen. Es hat Schwierigkeiten, sich Farben, Richtungsanweisungen, Lieder, Gedichte, Reihenfolgen usw. zu merken.
  • Das Kind hat kein Interesse am Erlernen von Buchstaben und Wörtern.

 

Anzeichen im Schulalter:

  • Das Kind erlernt das Schreiben und Lesen nur langsam.
  • Das Kind ist bei der Arbeit mit Buchstaben leicht abgelenkt.
  • Das Kind macht häufig Fehler, wobei ein Wort in einem Text einmal richtig und einmal falsch geschrieben werden kann.
  • Das Kind ermüdet schnell.
  • Das Kind hat scheinbare Seh-und Hörprobleme.
  • Die Körperhaltung ist verkrampft.
  • Das Schriftbild ist unleserlich.
  • Das Lesen geht nur stockend und langsam vor sich.
  • Das Kind hat Probleme beim Erlernen von Fremdsprachen.

Jeder Mensch hat seine persönlichen Stärken und Schwächen ... und das ist gut so! Nur dumm, wenn eine Schwäche in einem Bereich vorliegt, der wichtig ist, um reibungslos Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. ** bringt es Sigrid Gebhardt, Legasthenietherapeutin und Gesundheitstrainerin, auf den Punkt.

In Mathe etwa muss meine Tochter so gut wie nichts lernen und schreibt locker eine Zwei. Blöd nur, wenn die Angabe zur Textrechnung so lang ist, dass sofort Panik aufkommt und sie das Lösen gar nicht erst probiert. Als Eltern leidet man unheimlich mit seinem Kind mit. Und man tut zuhause wirklich alles, was man kann, stößt aber notgedrungen an seine Grenzen. Wenn da kein Verständnis von Seiten der Schule da ist, steht man allein auf weiter Flur. Aber es gibt Hilfe! Und je früher man sie in Anspruch nimmt, desto besser.

„Wird eine Legasthenie festgestellt, sollten Sie auf keinen Fall abwarten“, rät Evelin Harfmann, „denn die Probleme vergehen leider nicht ohne gezielte, individuelle Interventionen. Ohne einer entsprechenden Förderung werden die Leistungen trotz großer Anstrengung seitens der Kinder und der Eltern immer schlechter und die Hausübungssituation ist sehr angespannt. *

Dennoch haben wir nicht aufgegeben. Gemeinsam mit meiner Tochter kämpfe ich Tag um Tag mithilfe diverser Übungen und allem, was mir einfällt, damit wir ohne uns anzufauchen Schulisches zu meistern lernen.

Das Schreiben und Lesen einfach nur vermehrt zu üben, führt bei einer Legasthenie nicht zum gewünschten Erfolg. *

Das kennen wir nur zu gut. Hier sind meine Tipps.

So trainieren wir zuhause:

Ansagen

Es kommt durchaus vor, dass mein Kind ein und dasselbe Wort im Text auf unterschiedliche Arten falsch schreibt! Diese Wörter schreiben wir auf einen Extra-Zettel und sammeln so, was schwerfällt. Diese Wörter werden dann regelmäßig wiederholt, so lange, bis sich das richtige SchriftBILD des Wortes eingeprägt hat. Nun fällt ihr schon beim Schreiben auf, dass das Wort falsch sein muss, es sieht seltsam aus, irgendwas stimmt nicht, ist nicht so wie immer.

Bildgeschichten

Es hat sich herausgestellt, dass auch die Wahrnehmung meiner Tochter anders funktioniert. Beim Üben für die Bildgeschichte-Schularbeit interpretierte sie Gesichtsausdrücke und Gesten in den Zeichnungen komplett falsch und schrieb irrwitzige Geschichten, die keiner verstand. Da schnappte ich mir unser Acitivity-Spiel, und wir spielten Pantomime. Wie geht es mir, wenn ich so dreinschaue? Was will ich, wenn ich das mache? Und so weiter. (Im Gespräch mit unserer jetzigen Legasthenie-Trainerin fielen mir Situationen ein, bei denen es  schon im Sandkasten beim Spielen mit anderen Kindern zum Streit kam. Ganz offenbar weil meine Kleine nicht erkennen konnte, dass ihr Gegenüber nicht mehr mitspielen wollte, keine Lust mehr hatte, grantig war oder schüchtern.)

Das legasthene Kind hat eine andere Wahrnehmung, die es am richtigen Lesen und Schreiben hindert. Im Umgang mit Buchstaben kommt es zu einer zeitweisen Unaufmerksamkeit und dadurch zu Wahrnehmungsfehlern. *

Nacherzählen

Egal was, ich lasse es meine Tochter zusammenfassen. Was ist im Film passiert? Was haben wir heute alles erlebt? Sie muss die Reihenfolge von Geschehnissen so erzählen lernen, dass andere, die nicht dabei waren, folgen können. Klingt leicht, ist es aber nicht.

Von großer Wichtigkeit ist mir die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls und der Abbau der misserfolgsorientierten Haltung und von Blockaden. **, schreibt Sigrid Gebhardt.

Pausen

Ihre Aufmerksamkeitsphasen sind extrem kurz. Wenn wir lernen, ist sie exakt fünfzehn Minuten bei der Sache. Dann lässt die Konzentration nach. Ich lasse sie dann rumlaufen oder hüpfen. In der ersten Klasse Volksschule waren es laut der damaligen Klassenlehrerin noch etliche Kinder, die nicht stillsitzen konnten. In der zweiten Klasse war meine Tochter angeblich nur mehr die einzige. „Solange sie die anderen nicht stört“, meine die Lehrerin verständnisvoll, „darf sie hinten im Raum ihre Runden drehen und sich auslockern.“ Das war wundervoll.

Brille

Ich habe eine großartige Augenärztin gefunden, die mit einer Gleitsichtbrille das Blickfeld meiner Tochter erweitert hat. Nun tut sie sich leichter, bis ans Ende eines Satzes zu sehen und versucht, erst bei einem Satzzeichen Luft zu holen.

Schulwechsel allein ist nicht die Lösung

Texte schreiben, Texte lesen, Texte verstehen und interpretieren – das bleibt uns egal in welcher Sprache, egal in welcher Schule nicht erspart. Dass wir nicht davonrennen können, hat sie jetzt verstanden. Also stellen wir uns dem Problem.

Musik und Rhythmus

Meine Tochter ist sehr musikalisch. Wir haben gute Erfolge beim Vokabeln-Lernen und Buchstabieren gemacht, wenn wir im Rhythmus gesprochen haben. Ganz wie bei einem Rap. Und wenn es komplexer wird, muss sie sich zum Beispiel ein Referat merken, studieren wir beim Reden auch passende Gesten mit ein. Verliert sie den Faden, brauche ich nur die entsprechende Geste zu machen und sie weiß weiter.

Gehört unsere Tochter überhaupt ins Gymnasium?

Klar überlegt man hin und her. Wir haben uns nach der Volksschule wirklich intensiv diese Frage gestellt und können sie heute mit ja beantworten. Sie hat‘s drauf, sie versteht den Stoff, sie stellt kluge Fragen und hat richtige Denkansätze.

Allerdings haben wir vereinbart, sie zu nichts zu zwingen. Wenn ihr die Schule zu schwer wird, finden wir eine andere Schule. Die Matura kann man heutzutage auf verschiedenen Wegen machen. Es muss nicht das Gymnasium sein.

Auffällig bezüglich einer Legasthenie sind jene Schüler, bei denen eine schulische Schwäche wie Lesen oder Schreiben ganz aus dem Rahmen ihrer übrigen Schulleistungen fallen. Legasthenie hat also nichts mit fehlender Intelligenz zu tun, es gibt sogar viele überdurchschnittlich intelligente Menschen, welche an dieser Schwäche leiden. Auch Einstein zählte dazu…. **

Die erste Klasse Gymnasium ist nun geschafft – vielleicht sollte ich besser sagen: wir haben sie geschafft. Sehr wahrscheinlich mit doppelt so viel Anstrengung wie viele KlassenkollegInnen. Aber wir sind echt stolz. Für das neue Schuljahr haben wir uns Unterstützung geholt, professionelle Hilfe. Und deren schriftliches Gutachten (Legasthenie- und LRS-Test) sichert uns dann hoffentlich auch das Verständnis der Professoren, ein ganz wichtiger Rückhalt für alle SchülerInnen wie meine Tochter.

Sie hat so viele Talente. Mit und ohne Rechtschreibfehler - sie wird ihren Weg schon machen. Und auch wenn wir in den Ferien täglich üben müssen, es bleibt noch genug Zeit fürs Schwimmen und Faulenzen. Das verspreche ich.

"Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen." (Goethe)

*

Erfolgreich lernen – Mag. Evelin Harfmann, www.harfmann.at

 **

https://www.sigridgebhardt.at

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