Mit zweierlei Maß gemessen: Warum wir hinterfragen sollten, was wir von unseren Kindern verlangen
Wir wollen, dass unsere Kinder respektvoll mit anderen umgehen, doch gehen wir mit unseren Kindern oft respektlos um. Es ist allgemein gültig, dass Kinder – weil sie Kinder sind – unfair behandelt werden und sich fügen müssen. Weil Erwachsene es sagen!
Es ist an der Zeit manche Sprüche und Erwartungen zu hinterfragen.
Manche Sprüche kommen uns sehr schnell über die Lippen, viele Regeln werden einfach nicht hinterfragt, sondern nur übernommen.
Warum eigentlich? Schauen wir uns es genauer an:
#1. "Du sollst teilen!"
Ja, teilen ist gut. Teilen ist wichtig und teilen sollten wir schon. ABER! Kinder sind grundsätzlich soziale Wesen und wenn es denen an nichts fehlt, sind sie auch bereit zu teilen. Aber wir sollten nicht erwarten, dass sie immer und alles teilen. Erstens solltest du die Situation bewerten: spielt dein Kind gerade mit einem Spielzeug, gibt es keinen Grund, warum es dieses Spielzeug abgeben sollte.
Würdest du ein Buch, das du gerade liest, hergeben?
Wenn du gerade mitten im Stricken bist, würdest du deine Stricknadel jemanden her borgen?
Zweitens solltest du schauen, was dein Kind gerade teilen soll. Ist es ein neues Spielzeug? Ein Lieblingskuscheltier? Würdest du dein Handy ohne Probleme teilen? Du kannst mit deinem Kind ausmachen, dass es Spielzeuge, die es nicht hergeben möchte, wegräumt, bevor der Besuch kommt. So werden schon im Vorhinein viele Konflikte beseitigt.
#2. "Weine nicht!"
Ein Indianer kennt kein Schmerz? Jungs weinen nicht? Weine nicht, es tut nicht so weh?
Alte Glaubenssätze, die so viel kaputt machen können.
Die einzig richtige Reaktion auf ein weinendes Kind ist – es in die Arme zu schließen und zu trösten. Jetzt kommen schon die inneren Gedanken wie „Aber was, wenn mich mein Kind nur manipulieren will?“, „Was, wenn es zu verwöhnt wird von mir?“.
Keine Angst. Wenn du deinem Kind genug Empathie entgegenbringst, hat es keinen Grund, dich zu manipulieren. Denn ein Kind zu trösten, heißt nicht automatisch, dass wir dem Kind auch alles erlauben und keine Grenzen setzen. Es heißt nur, dass wir seinen Schmerz – innerlichen oder äußerlichen – ernst nehmen und begleiten.
Es kann dennoch bei einem NEIN bleiben, wenn dein Kind weint, weil du etwas nicht erlaubt hast. Du kannst einfach nur sagen: „Ich verstehe deinen Ärger und dass du traurig bist, dennoch erlaube ich es nicht.“ So lernt dein Kind, dass du dazu stehst, was du gesagt hast, dein Kind aber nicht alleine mit den Konsequenzen klarkommen muss.
#3. "Gib Oma ein Küsschen!"
…sonst wird sie traurig sein. Das ist wohl der umstrittenste Satz, den es gibt. Viele sind heute noch der Meinung, dass ein Kind Verwandte küssen sollte, wenn man es verlangt.
Dazu gibt es nur einen Anreiz zum Nachdenken von mir: stell dir diesen einen Onkel vor, den du als Kind nicht so gemocht hast. Oder diese eine Tante, die immer so ein starkes Parfüm trug oder nach Zigaretten roch. Wenn es so eine Person in deiner Familie nie gab, stell dir einen Nachbarn vor, der dir nicht besonders sympathisch ist. Und nun stellt dir vor, du sollst diese Personen nun jedes Mal küssen, wenn du diese siehst. Blöder Vergleich, weil deine Kinder die Oma lieben und du den Nachbarn/Onkel/usw. nicht? Nicht ganz, denn du willst diese Person nicht küssen. Genauso wie unsere Kinder manchmal oder vielleicht auch immer die Oma nicht küssen wollen.
Das Ergebnis ist das Gleiche – ein Nein.
Nur, dass ein Nein von Kindern oft nicht akzeptiert wird, während wir aber erwarten, dass unsere Kinder unser Nein immer ernst nehmen… Respektvolle Alternative: „Mochtest du der Oma ein Küsschen geben? Nein? Dann kannst du eines schicken oder Oma nur umarmen. Ganz wie du willst.“
Ist Oma/Opa/Tante/usw. gekränkt? Dann erkläre ihr, dass es wichtig ist, dass deine Kinder ihre körperlichen Grenzen wahren können, falls denen irgendwann jemand zu nah kommen will, der es nicht gut meint mit denen. Ich glaub gegen dieses Argument kann keiner etwas sagen.
#4. "Du musst aufessen!"
Wieder ein Satz, der übergriffig ist. Wir respektieren nicht das Sättigungsgefühl unserer Kinder nicht. Weil wir es selbst so gelernt haben. Oft von einer Generation, die sehr sparsam mit dem Essen umgehen musste, weil es davon nicht genug gab.
Aber ganz ehrlich – unsere Kinder sind Wunder der Natur und die Natur hat uns mit großartigen Kompetenzen ausgestattet. Wir haben Hungergefühl und empfinden Durst.
Nur das Vertrauen in unsere Kinder fehlt uns oft.
„Er ist nicht genug.“ „Sie ist zu dünn.“ Das sind Sätze, die ich als Kind und als Mama nur zu oft gehört habe. Zum Glück habe ich schon immer dagegen gekämpft. Nun habe ich zwei schlanke, gesunde Kinder, die unterschiedlicher im Essverhalten nicht sein können: Während mein Sohn lieber öfters kleinere Portionen isst, kann die Kleine auf einmal eine große Portion in sich reinschaufeln und dann Stunden nichts mehr essen. Übrigens das war seit der Geburt schon so. Der Große trank verlässlich alle zwei Stunden seine Milch. Die Große schlief manchmal 8 Stunden durch in der Nacht.
#4. "Bleib ruhig sitzen!"
Ruhig sitzende Kinder sind in meinen Augen ein Mythos. Kinder haben so einen starken Bewegungsdrang. Ich feiere sie sehr, wenn sie zumindest einen Teil der Mahlzeit sitzen bleiben, aber ich erwarte nicht, dass sie es lange aushalten. Wenn wir in eine Situation kommen, in der sie sitzen sollten, nehme ich extra Malbücher, Bücher und Puzzles mit.
Aber ich bin nicht enttäuscht, wenn es mit dem Sitzen nicht so funktioniert.
Das heißt nicht, dass sie frei rennen können, wann immer sie wollen. Ich versuche sie schon beim Essen zum Sitzen zu animieren. Ich erkläre ihnen, dass es gesünder ist, in Ruhe zu essen und sich auf das Essen zu konzentrieren. Wenn sie aber früher vom Tisch aufstehen wollen als wir Erwachsenen, habe ich kein Problem damit.
Ich war selbst ein lebendiges Kind und kann mich sehr gut erinnern, dass ich kaum ruhig sitzen konnte und deshalb oft abgemahnt wurde. Um so mehr feiere ich die Klassenlehrerin meines Sohnes, die sich mit meinem lebendigen Sohn beschäftigt hat und Methoden gesucht hat, wie er seinem Bewegungsdrang nachgehen kann und gleichzeitig auf seinem Platz bleibt und nicht stört. (Sie spannte z.B. Gummibänder unter die Füße meines Kindes. Er konnte so dagegen drücken und mit den Füßen damit spielen, damit er sich bewegt und gleichzeitig sitzen bleibt.)
#5. "Konzentriere dich auf das, was ich sage!"
…erwarten wir und schauen dabei selbst viel zu oft ins Handy, während uns unsere Kinder etwas erzählen oder zeigen wollen. Manchmal gehen wir im Kopf durch, was wir heute noch alles tun müssen, während unsere Kinder von ihrem Tag im Kindergarten berichten, und wir schweifen in Gedanken ab, während uns ein gemaltes Bild erklärt wird.
Aber von unseren Kindern wollen wir, dass sie uns genau zuhören.
Übrigens die Konzentrationsspanne eines Kindes zwischen 5 und 7 Jahren liegt bei circa 15 Minuten. Sieben bis Zehnjährige können sich bis zu 20 Minuten am Stück konzentrieren und 10- bis 12-jährige um die 25 Minuten. So viel dazu, dass Kinder in der Schule 45 Minuten aufpassen sollten…
Möchtest du, dass dein Kind dir zuhört, suche Augenkontakt, schau, dass es gerade nicht spielt, TV schaut oder ein Hörbuch hört und gebe kurz und knackig die wichtigsten Infos durch. Am Ende noch eine Kontrollfrage, was bei deinem Kind angekommen ist – fertig. Wenn du aber merkst, dein Kind ist gerade nicht aufnahmefähig, sein nachsichtig. Du bist auch nicht immer voll bei der Sache!