Inklusion in der Schule - so könnten ALLE davon profitieren

Was wäre, wenn von Inklusion im Klassenzimmer ALLE Kinder profitieren könnten, statt nur einzelne Kinder? Ein Gedankenexperiment mit konkreten Vorschlägen.

Zu Beginn eine Geschichte

“Timmy sitzt auf seinem Stuhl in seiner Schulklasse und schreibt seine Deutsch-Schularbeit. “In 5 Minuten müsst ihr die Arbeit abgeben!”, ertönt da von vorne die Stimme der Lehrerin. “Mist”, murmelt Tobi, der neben Timmy sitzt. “Ich bin längst noch nicht fertig”.
“OK, alle abgeben bitte! Timmy, du hast noch 10 Minuten länger Zeit”, verkündet die Lehrerin wenig später. Timmy hat Lese-Rechtschreib-Schwäche und bekommt deshalb mehr Zeit. “Mann, das ist so unfair!” protestiert Tobi, während er seine Arbeit abgibt. Er hätte auch noch mehr Zeit benötigt.

So oder ähnlich könnte sich heute eine Situation in einem österreichischen Klassenzimmer zugetragen haben.

Nachteilsausgleich ist keine Bevorzugung

Timmy bekam 10 Minuten länger Zeit für seinen Test.

Das nennt man Nachteilsausgleich.

Maßnahmen zum Nachteilsausgleich sind wichtig, denn es handelt sich dabei nicht um eine Bevorzugung, sondern um eine Wiederherstellung der Chancengleichheit. Nichtsdestotrotz können solche Maßnahmen gerade bei unsichtbaren Behinderungen wie beispielsweise Lese-Rechtschreibschwäche, ADHS oder Autismus auf Unverständnis von Mitschülern treffen. Dies wiederum kann sich nachteilig auf das betroffene Kind auswirken - es bekommt einen Außenseiterstatus.

Vor- und Nachteile eines Nachteilsausgleichs müssen selbstverständlich immer gegeneinander abgewogen werden. Doch was wäre, wenn es - zumindest für bestimmte Themen und Diagnosen - auch noch einen anderen Weg gäbe?

Ein gemeinsamer Weg

Einen Weg zwischen offizieller Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleichs und dem “Durchwurschteln” ohne Hilfen? Einen Weg, bei dem die GANZE Klasse von den Maßnahmen profitiert und nicht nur einzelne Kinder? Einen Weg, bei dem betroffenen Kindern geholfen werden kann, ohne sie zu “Sonderlingen” zu machen, gleichzeitig aber auch jenen Kindern geholfen werden kann, die ebenfalls Schwierigkeiten, aber keine Diagnose haben? Muss denn immer alles diagnostiziert sein, damit es in unserem Schulsystem möglich ist, auf individuelle Unterschiede der Kinder einzugehen?

Keine Frage: Diagnosen sind wichtig, um denjenigen besonderen Hilfebedarf zuzugestehen, die ihn wirklich brauchen. Aber auch abseits von Diagnosen sind wir Menschen unterschiedlich - und das ist gut so! Der eine ist schneller, der andere langsamer. Der eine introvertiert, der andere extrovertiert. Dem einen fallen mündliche Prüfungen leichter, dem anderen schriftliche. Warum können wir darauf nicht eingehen? Warum können wir nicht auch für ganz “normale” Unterschiede zwischen Menschen Anpassungen der Regeln erlauben? Erlauben, dass wir verschieden sind, ohne das zu bestrafen?

Tobi aus dem Beispiel oben hätte ebenfalls mehr Zeit für seinen Test benötigt. Tobi hat keine Lese-Rechtschreibschwäche, aber ein langsames, dafür sehr genaues Arbeitstempo. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Genauigkeit ist im Arbeitsleben oft wichtiger als Schnelligkeit. Es ist eine Stärke, keine Schwäche. Warum also wird Tobi dafür nicht wertgeschätzt, sondern mehr oder weniger dafür bestraft? Was wäre so schlimm daran, langsameren Kindern auch mehr Zeit für einen Test einzuräumen, solange sie in dieser Zeit wirklich konzentriert beim Test sitzen und keinen Unsinn machen?

Lernen vom Nachteilsausgleich

Ich denke, vom Nachteilsausgleich können wir noch einiges lernen. Nämlich Flexibilität und zu verstehen, dass es gut und richtig ist, darauf einzugehen, dass jedes Kind verschieden ist - soweit es im Rahmen des Kindergarten- oder Schulbetriebs eben möglich ist.

Was wäre, wenn wir die häufig genutzten Akkommodationen (=Anpassungen) für Kinder mit Behinderungen daraufhin überprüfen würden, ob manche davon nicht für die ganze Klasse umsetzbar wären? Denn manche (bisherigen) ”Sonderbehandlungen” wären eigentlich für alle Kinder gut und hilfreich.

Ein Beispiel: Ruhe- und Bewegungspausen für alle

Das Bedürfnis nach Ruhe und Bewegung ist ein allgemeingültiges Bedürfnis.

Gott selbst hat beides in uns hineingelegt. Nicht umsonst schuf er einen Ruhetag, nachdem er sechs Tage lang gearbeitet hatte. Nicht umsonst gab er dem Menschen eine Aufgabe mit Bewegung: Über die Schöpfung zu herrschen und sie zu schützen. Jeder, der einen Garten besitzt, wird wissen, dass Gartenpflege nicht ohne Bewegung gelingt ;)

Ohne Ruhe und Bewegung werden wir krank

In unserer heutigen Welt aber ist beides hart umkämpft: Durch sitzende Berufe und sitzendes Lernen in der Schule bekommen Erwachsene genauso wie Kinder viel zu wenig Bewegung. Haltungsprobleme, Wirbelsäulenprobleme, seelische Unausgeglichenheit und vieles mehr sind die Folgen. Ebenso verhält es sich bei der Ruhe: In unserer schnelllebigen, reizintensiven Welt haben wir alle Wartezeiten soweit möglich ausgemerzt. Muss man doch einmal warten, ist das Handy schnell bei Hand. Immer online, immer erreichbar, das ist die Devise. Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass auch das negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat: Stress, Burnout, psychische Erkrankungen, ein angeschlagenes Immunsystem und Herzerkrankungen sind mögliche Folgen.

Wichtige Lebenskompetenz: Selbstfürsorge

Kaum eine Kompetenz hat daher heutzutage mehr Bedeutung als diese: Für sich selbst gut sorgen zu können. Dazu gehört auch, die eigenen Bedürfnisse achtsam wahrzunehmen und Möglichkeiten zu kennen, wie wir uns um sie kümmern können. Wer seine eigenen Bedürfnisse nicht beachtet, wird außerdem auch die Bedürfnisse anderer nicht beachten. Aus Selbstachtsamkeit erwächst im Idealfall auch Sensibilität und Achtsamkeit gegenüber der Bedürfnisse anderer Menschen. Was wäre, wenn unsere Kinder dies in Kindergarten und Schule erlernen könnten?

Die Idee: Ruhe- und Bewegungspausen für alle

Ruhe und Bewegung brauchen wir alle.

Insbesondere unsere Kinder. Trotzdem wissen wir alle, dass unser derzeitiges Bildungssystem dafür viel zu wenig Raum lässt. Im Kindergarten dürfen die Kinder nicht rennen. In der Schule müssen sie sitzen. Turnunterricht gibt es meist nur einmal pro Woche. Und in den Pausen zwischen den Stunden ist es am allerlautesten.

Wer besonders darunter leidet, sind oftmals Kinder mit unsichtbaren Behinderungen. Denn sie nehmen vieles viel sensibler wahr. So benötigen Kinder mit ADHS oft weitaus mehr Bewegung als andere Kinder, um ausgeglichen zu sein - und leiden daher unter der Bewegungsarmut in der Schule besonders stark. Kinder im autistischen Spektrum hingegen leiden besonders unter wenig Ruhe und fehlenden Rückzugsräumen.

Aber das Gute daran: Aufgrund dieser Schwierigkeiten wurden bereits Ideen entwickelt, wie diese Kinder zu mehr Ruhe und Bewegung kommen können. Und diese Ideen könnte man eigentlich für alle umsetzen.

Konkrete Maßnahme Nr. 1: Ruhepausen für alle

Schätzungen zufolge sind etwa…

  • …50% aller Kinder introvertiert.
  • …20-30% aller Kinder hochsensibel.
  • …5% aller Kinder von AD(H)S betroffen
  • …1% aller Kinder im autistischen Spektrum

 

Was alle diese Kinder miteinander vereint, ist das erhöhte Ruhebedürfnis. Statistisch gesehen sind also mindestens die Hälfte aller Kinder in jeder Schulklasse von einem der oberen Merkmale betroffen und würden von mehr Rückzugsmöglichkeiten im Kindergarten- oder Schulalltag stark profitieren.

Rückzugsorte sollte es in jedem Klassenzimmer geben

Einen Rückzugsort im Klassenzimmer zu kreieren wäre also eine Maßnahme, die für alle Sinn machen würde. Es müsste nicht alleine ein Rückzugsort für das autistische Kind kreiert werden, wodurch es einen Sonderstatus bekommen würde. Rückzugsorte in Kindergärten und Schulen könnten vielmehr zum neuen Grundstandard werden, von dem alle profitieren.

Eine innovative Idee zum Schaffen von Rückzugsräumen in Kindergarten, Klassenzimmer und Schulflur: Die Lernwabe. In einer Volksschule in Steyr ist sie bereits im Einsatz.

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von Lernwabe Österreich (@lernwabe_at)

Kurze Lärmpausen durch Noice-Cancelling-Kopfhörer

Auch die Möglichkeit einer kurzen Auszeit vom Lärm mit Hilfe von Noice-Cancelling Kopfhörern könnte eine Maßnahme sein, die für alle hilfreich sein könnte. Ein Best-Practice-Beispiel: Im Großraumbüro meiner Arbeit wurden einige solche Kopfhörer für die Angestellten angeboten. Wer das Bedürfnis nach Ruhe hatte, konnte sich einfach selbstständig welche nehmen. Das ließe sich auch in Schulklassen umsetzen für Pausen- oder Freiarbeit-Zeiten.

Auch Pädagogen haben ein Recht auf Ruhepausen

Nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrkräfte könnten von diesen Maßnahmen profitieren. Denn in einem Umfeld, in dem es erlaubt und gewünscht ist, auf eigene und andere Bedürfnisse zu achten, dürfen selbstverständlich auch die Lehrer ihre Bedürfnisse zeigen! So könnte beispielsweise auch eine Lehrkraft die Karte “Was ich jetzt brauche - 5 Minuten Ruhepause” hochheben und anschließend eine Ruhepause für die ganze Klasse verordnen. Stifte und Hefte weg, den Kopf auf die Arme gelegt und einfach mal ausruhen, ohne zu reden. Das verschafft der Lehrkraft eine Pause vom Lärm und auch die Kinder profitieren davon - sie lernen, dass auch Eltern und Lehrkräfte Bedürfnisse haben und üben, fünf Minuten einmal nichts zu tun. Für Kinder oder Klassen, denen Nichtstun extrem schwer fällt, könnten alternative Beschäftigungen geboten werden: z.B. das Horchen von ruhiger Meditationsmusik, einer geführten Traumreise, Atemübungen oder das Aufschreiben/-malen einer “Dafür bin ich dankbar”-Liste.

Konkrete Maßnahme Nr. 2: Bewegungspausen für alle

Ein anderes Beispiel ist der oftmals erhöhte Bewegungsdrang von Kindern mit ADHS. Kinder mit ADHS benötigen ausreichend Bewegungspausen, um sich gut konzentrieren zu können. Das trifft aber auch auf viele andere Kinder zu, wenn auch sicher nicht im gleichen Ausmaß.

Warum also nicht mehr Bewegungspausen für alle etablieren?

Da gäbe es zum einen die Möglichkeit einer gemeinsamen Bewegungspause: Stift weg, Heft weg, alle aufstehen und einmal kräftig durchschütteln, bewegen, gemeinsam Übungen machen oder tanzen! Auch individuelle Bewegungspausen wären möglich: Mithilfe einer farbigen Karte könnte ein Kind um eine Bewegungspause bitten - ja, auch während des Unterrichts! Denn was hilft es, wenn das Kind zwar im Unterricht sitzt, aber nicht mehr aufmerksam zuhören kann?

Da ist es doch besser, ihm zu erlauben, kurze 5 Minuten lang ein paar Mal im Gang auf und ab zu laufen, damit es sich anschließend wieder auf den Unterricht konzentrieren kann. Es wird dann in Summe nicht nur mehr vom Unterricht mitbekommen, sondern auch weniger stören durch Zappeligkeit und Unaufmerksamkeit. Also ein Win-Win für alle!

Persönliche Erfahrungen

Ich selbst war eines dieser Kinder mit einem sowohl hohen Ruhe-, als auch Bewegungsbedürfnis. Doch ich hatte Glück, denn ich fand Wege, meine Bedürfnisse zu erfüllen, ohne negativ aufzufallen: Lesen, Beine- und Stuhlwippen, Sprints durch leere Gänge. Als Kind hätte mir mehr Bewegung im Schulalltag das Leben aber sicher erleichtert.

Fazit: Von mehr Flexibilität im Bildungswesen könnten alle profitieren. Ideen für kreative Maßnahmen gibt es bereits - wir müssen nur noch den Mut haben, sie für alle umzusetzen. Leiten Sie diesen Artikel doch an Ihre Schule oder Ihre Lehrkraft weiter! Vielleicht hat sie den Mut, damit zu beginnen.

Kostenloser Download:

“Das-brauch-ich-jetzt-Karten” für den Unterricht inklusive Anwendungserklärung:

Das Brauch ich jetzt Karten

Ähnliche Artikel

Ein Artikel von

Weitere Artikel des Autors lesen