„Na gut“ – „Nein“ – „Ja“? 5 Merkmale liebevoller Grenzen
„Nein ist die liebevollste aller möglichen Antworten“, schreibt Jesper Juul. Dahinter steckt der Gedanke: Nur wenn wir aus ganzem Herzen „Nein“ sagen können, können wir auch wirklich „Ja“ sagen. Und nur dann weiß unser Kind, dass ein „Ja“ ein „Ja“ ist und ein „Nein“ ein „Nein“ – und kann sich an uns orientieren. Weshalb Grenzen setzen so wichtig ist.
„Nein“ zu mir ist ein „Ja“ zum Kind?
In meiner Arbeit mit Eltern, aber auch in meinem Leben als Mama, erlebe ich oft, dass aus einem inneren, klaren „Nein“ letztlich ein „Na gut“ wird – also ein „Nein“ zu mir, ein „Ja“ zum Kind. Es werden keine klaren Grenzen gesetzt. Weil wir selbst viel zu hohe Ansprüche an uns haben, weil wir gelernt haben, dass ein „Nein“ unhöflich oder abweisend ist, oder weil wir denken, wir müssen allem und jedem gerecht werden. Lieber geben wir uns her (statt hin) – wir er-schöpfen uns dadurch. Kein Wunder, dass gerade das abendliche Zähneputzen oder Pyjamaanziehen oft zum „Drama“ wird: das Kind ist müde und quengelig, aber auch die Eltern können nicht mehr – genug „Na gut“ für heute.
Auch dem Kind bringt ein „Na gut“ nicht so viel, im Gegenteil
Es spürt, dass seine Eltern jetzt eigentlich nicht so gerne mit ihm Buch anschauen, spielen, Hausübung machen…, aber es kann den Grund dafür nicht richtig einordnen. Das verunsichert und verwirrt.
„Nein, ich mag jetzt nicht mit dir spielen“, wäre – wertschätzend mir und meinem Kind gegenüber ausgesprochen – eine liebevolle Grenze gewesen. „Ich bin so müde und will mich eine viertel Stunde ausruhen.“.
Aus diesen authentischen Aussagen ergeben sich oft die schönsten neuen Möglichkeiten: gemeinsam auf dem Sofa kuscheln, das Kind liest heute mal vor, gemeinsam ein Hörbuch hören… Es ist gar nicht so sehr das „Nein“ als solches, das ein Geschenk ist, sondern offen und ehrlich zu dem zu stehen, was wir gerade (nicht) wollen und die Verantwortung zu übernehmen: liebevolle Grenzen setzen, als Orientierung für unsere Kinder. Damit diese wissen, dass Papa oder Mama nicht deshalb das Spiel verweigern, weil die Kinder etwas falsch gemacht haben, sondern weil die Eltern gerade einfach müde sind. Und das darf so sein, das ist okay.
Liebevolle Grenzen setzen
Damit sind wertschätzende, persönliche und authentische Grenzen gemeint, die mich mich sein lassen und dich dich. Die ausdrücken, was ich von dir erwarte oder mir wünsche – ohne Anspruch auf Erfüllung.
Wie sehen solche Grenzen nun genau aus?
Hier findet ihr 5 Merkmale liebevoller Grenzen:
#1 Liebevolle Grenzen sind freundlich, aber klar
Ich kann auch in gewaltfreier Kommunikation oder mit den wertschätzendsten Worten so durchs Haus schreien, dass mein Kind Angst bekommt. Das ist natürlich nicht Sinn der Sache.
Liebevolle Grenzen sind im Tonfall freundlich, ruhig und absolut wertschätzend dem anderen gegenüber, gleichzeitig aber klar und bestimmt.
Meistens gelingt diese Kombi automatisch gut, wenn wir uns aus ganzem Herzen erlauben, Grenzen zu setzen. Erlauben wir uns das nicht, wird oft abgeschwächt formuliert: „Ich möchte“, „Kannst du bitte…“, „Es wäre ganz toll…“, „Magst du vielleicht…“, all das kann man sagen, aber es kann gut sein, dass euer Kind dann gar nicht versteht, was ihr eigentlich wollt.
Sprich klar und deutlich
Wenn es also sehr wichtig ist, sagt ganz klar, was ihr wollt: „Ich will, dass du mir die Hand gibst (wenn wir über die Straße gehen)“. Freundlich ausgesprochen ist das weder unhöflich noch despektierlich. Die Haltung und der Tonfall machen den Unterschied. Zur Klarheit gehört auch die Kürze: Wir neigen oft dazu, ganz viel zu erklären. Auch das ist sicher nett, kann aber unter Umständen überfordernd für unser Kind sein, das aus der Vielzahl an Wörtern dann das rausfinden muss, was es machen soll.
Je deutlicher wir sagen, was wir wollen, umso leichter können unsere Kinder kooperieren. Am besten ohne Negierungen formulieren, also lieber ein „Komm bitte vom Sofa runter“ als ein: „Ich will nicht, dass du auf dem Sofa springst.“
#2 Liebevolle Grenzen sind wertschätzend
Es ist vollkommen okay, wenn zwei Menschen unterschiedliche Dinge wollen. Wie in allen Beziehungen kommt es lediglich darauf an, wie ihr damit umgeht, also ob sich ein Konsens oder ein Kompromiss finden lässt. „Wieso willst du denn nicht Zähne putzen? Erzähl mal“, könnten wir fragen. Wichtig dabei ist, wirklich offen und neugierig nachzufragen. „Das ist langweilig, Papa“ – „Ich verstehe, dir ist langweilig, aber mir ist wirklich wichtig, dass du deine Zähne putzt.
Was können wir da machen, hast du eine Idee?“ – „Kannst du mir dabei eine Geschichte erzählen?“ – „Ja, das kann ich gerne machen“ oder: „Nein, ich brauche die Zeit, um deine Schwester bettfertig zu machen. Möchtest du ein Lied zum Zähne putzen hören und danach erzähle ich euch beiden im Bett eine Geschichte?“ So oder so ähnlich könne ein wertschätzendes Gespräch ablaufen, bei dem das Kind Grenzen zur Orientierung vorfindet und gesehen wird.
#3 Liebevolle Grenzen geben Orientierung
Wie ein Leuchtturm geben wir unseren Kindern mit unseren persönlichen, klaren Grenzen eine Orientierung. Wie sind wir drauf, wie geht es uns, was können wir heute (nicht) gut aushalten? Was ist okay, was nicht? Kinder brauchen diese Orientierung, sonst schwimmen sie und suchen ihre Grenzen in teils extremen Verhaltensformen, um überhaupt Grenzen zu spüren. Es ist also wichtig und richtig, Grenzen zu setzen, solange es wirklich meine persönlichen Grenzen sind und ich dabei wertschätzend bleibe.
#4 Liebevolle Grenzen sind persönlich
Sprecht in Ich-Botschaften: „Komm bitte runter, mir ist das zu hoch!“ zeigt meine Grenze auf. Wenn ich stattdessen sage: „Das ist zu hoch, komm jetzt runter!“ grenze ich mein Kind ein. Ich vermittle ihm: „Du kannst das nicht, das ist dir zu hoch, Höhe ist gefährlich“ und gebe meine Angst vor Höhe an mein Kind weiter. Ich grenze mein Kind ein – statt mich ab.
Wenn ich stattdessen meine Grenze aufzeige, kommt mein Kind vom Kletterturm und weiß: „Ich muss jetzt runterkommen, der Mama ist das zu hoch“, es trägt aber immer noch das Vertrauen in sich, dass es der weltbeste Kletterer oder die weltbeste Kletterin ist, und morgen wird wieder geklettert, dann vielleicht mit jemanden, der Höhe besser aushält.
Diese liebevollen Grenzen sind absolut individuell, eben persönlich. Es gibt kein „richtig“ und „falsch“. Manche Menschen stört es, wenn Kinder mit Händen im Essen rumwühlen, manche nehmen das ganz locker. Und beides ist okay. Ihr dürft sagen: „Ich will, dass du mit dem Löffel isst“, wenn euch das wirklich wichtig ist – nicht, weil ihr denkt, man muss das so tun. Kinder lernen so und so, mit dem Löffel zu essen.
Immer, wenn ihr ein „man“ benutzen möchtet, fragt euch kurz, ob es euch wirklich wichtig ist, oder nur diesem ominösen „man“.
Kinder merken nämlich gut, ob sie wirklich an einer persönlichen Grenze angelangt sind, oder ob wir irgendetwas durchdrücken, nur weil wir denken, es gehört so, es uns aber gar nicht so wichtig ist. Dazu zählen auch Regeln, die wir nur für unseren Partner/unsere Partnerin einfordern. Kinder spüren, dass es uns eigentlich egal ist, und diskutieren diese schwammigen Grenzen.
Da ist es oft sinnvoller, authentisch zu bleiben und zu sagen: „Du, der Papa will das nicht. Lass es bitte.“
Die Zeiten, an denen Eltern immer an einem Strang ziehen müssen, um ihre Machtposition zu stärken, sind zum Glück vorbei. Wir dürfen und sollen authentisch für unsere Kinder sein.
#5 Liebevolle Grenzen sind „reaktionsoffen“
Nur weil ich eine liebevolle Grenze setze, heißt es nicht, dass der andere diese toll finden muss. Kinder dürfen wütend, enttäuscht, ärgerlich sein, wenn wir eine Grenze ziehen. Das heißt nicht, dass wir etwas falsch machen oder schlechte Eltern sind – es ist einfach ihre Reaktion auf unsere Grenze.
Und das ist okay, das gehört dazu. Die Wertschätzung hört nicht beim Aussprechen der Grenze auf, sondern ist auch noch da, wenn wir unser Kind danach durch einen Wutanfall oder die Frustration begleiten. Unsere Kinder machen das nicht, um uns zu ärgern oder zu provozieren. Sie lieben euch bedingungslos, auch wenn sie wütend oder frustriert sind. Nehmt sie in den Arm, zeigt Verständnis, seid da für sie. Die Erfahrung, dass andere Menschen Grenzen haben, dass auch ich Grenzen haben darf, ist eine ganz wichtige.