Wie der Tod mich durchs Leben begleitet

Als ich 22 Jahre alt war, starb meine Mama plötzlich und unerwartet bei einem Autounfall. Drei Tage nach Weihnachten. Auf dem Heimweg von meiner Schwester, welche sie über die Feiertage besucht hatte. Plötzliches Glatteis auf regennasser Fahrbahn. Genickbruch.

Kurz nach 19:00 Uhr läutete es an unserer Haustür, davor stand ein guter Freund von uns, beruflich Polizist in unserer Stadt. Ich wunderte mich, freute mich, ihn zu sehen, bat ihn herein. Seine Miene war versteinert, verzweifelt. Er meinte, ich solle bitte mal meinen Mann, damals noch mein Freund, holen. Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war …

Minuten später teilten sie mir mit, was passiert war.

Ich weiß noch genau, wo ich saß, dass sich Gefühle von Ungläubigkeit, Schock, Verzweiflung, Angst und Trauer in Sekundenbruchteilen abwechselten, Gedanken rasten genauso schnell, wie ich zu ihr wollte. Und doch fürchtete ich mich davor, sie identifizieren zu müssen. Die Hoffnung, sie sei doch nicht die verunfallte Person, war zu klein, um sich daran klammern zu können.

Am Tag vor Weihnachten

Am Tag vor Weihnachten kam ich von der Arbeit nach Hause und fand vor unserer Haustür eine Keksdose mit einem Brief drauf vor. Die Dose war gefüllt mit Vanillekipferln, meinen Lieblingskeksen. Das Geschenk war von meiner Mama. Im Brief teilte sie mir mit, dass meine Vanillekipferl furchtbar schmeckten (was stimmte) und sie mir (endlich!) ihr Rezept verrät, damit ich sie in Zukunft auch so backen könne.

Nach ihrem Tod war die Dose noch halbvoll. Ich teilte die Kekse mit meinen Schwestern und wir aßen sie gemeinsam, als ob sie etwas Heiliges wären. Ich kann mich daran erinnern, dass wir gemeinsam lachten und an die Gefühle, das ich dabei hatte: Einerseits war es befreiend, trotz all des Schmerzes und der Trauer, einen Moment der Leichtigkeit erleben zu können. Andererseits fühlte ich mich fast schuldig, als ob ich etwas Verbotenes täte.

Nun ist dieses Ereignis schon 18 Jahre her.

Und in all dieser Zeit habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, warum ich diese Trauer leichter bewältigt habe als meine drei Schwestern. Es kann weder am Gottvertrauen liegen, denn gestärkt durch den Glauben sind wir alle aufgewachsen, noch an der emotionalen Bindung. Unsere Mama hat uns allen vermittelt, dass wir bedingungslos und gleich stark geliebt werden, ohne Leistung erbringen zu müssen, einfach nur, weil es uns gibt. Natürlich gab es Geschwisterstreit, aber nie Eifersucht oder den Eindruck bevor- oder nachteilt zu werden.

Was hilft nun aber wirklich, um nicht im Trauersumpf stecken zu bleiben?
In der Resilienzforschung wurden Faktoren beschrieben, die dazu beitragen, Krisen besser bewältigen zu können, nämlich:

  • Emotionale Stabilität: Akzeptanz, positive Emotionen, positive Selbstwahrnehmung
  • Kognitive Fähigkeiten: Selbstwirksamkeitserwartung, realistischer Optimismus, Kontrollüberzeugung, Kohärenzgefühl
  • Interaktionale Faktoren: Soziale Unterstützung und Empathie

Diese Komponenten werden sehr gut bei Sebastian Mauritz beschrieben.

Ich denke, was mich persönlich auszeichnet, sind vor allem die positiven Emotionen, der Optimismus und das Kohärenzgefühl.


Ich wurde von Verwandten oft als „Sonnenschein“ bezeichnet. Aussagen, wie: „Wenn du ins Zimmer kommst, scheint die Sonne“ oder „Es tut so gut mit dir zu reden, da geht es mir gleich viel besser, weil du meine Sichtweise relativierst", habe ich schon oft gehört. Ich erinnere mich auch daran, dass ich mir nach dem Tod meiner Mama gedacht habe: „Das Gute daran ist, dass ich nun ein unbefangenes Verhältnis zu meinem (von meiner Mama getrennten) Papa leben kann.“


Das bedeutet nicht, sich vor Krisen zu schützen oder schmerzende Gefühle zu verdrängen, sondern so schlimm es auch ist, dennoch positive und stärkende Gefühle wahrnehmen zu können und sich bewusst zu machen.

Optimismus bedeutet, Positives zu erwarten und auf eigene Fähigkeiten bei der Bewältigung von schwierigen Situationen zu vertrauen.

Ich kann mich auch erinnern, gedacht zu haben: „Dieses Erlebnis war für mich so schlimm, ich wüsste nicht, was noch kommen soll, das ich nicht bewältigen könnte.“ Ich fokussiere meine Gedanken einfach öfter auf das Gute und verinnerliche es somit. Das stärkt mich in Stress- oder Krisenzeiten.

Das Konzept des Kohärenzgefühls (entwickelt vom Mediziner Aaron Antonovsky) beschreibt die Komponenten, die ein Mensch für den Aufbau und Erhalt der physischen und psychischen Gesundheit braucht. Diese sind:

  • Verstehbarkeit: Die Fähigkeit Zusammenhänge im Leben zu verstehen.
  • Machbarkeit: Die Überzeugung, Dinge aus eigener Kraft zu bewältigen.
  • Sinnhaftigkeit: Der Glaube an einen Sinn des Handelns und Denkens.
     

Als dann mein Vater vor 4 Jahren im Sterben lag, war ich die letzten Tage seines Lebens Tag und Nacht bei ihm. Wir redeten viel, ich fragte ihn alles, was ich noch wissen wollte, sagte ihm noch alles, was mir wichtig war und aß  mit ihm gemeinsam sein letztes Mahl, süße frisch geerntete Erdbeeren vom Feld nebenan. Meine Schwestern kamen auch, redeten mit ihm, gingen immer wieder hinaus, um zu weinen. Eine Schwester fragte mich: „Wie machst du das? Du wirkst so stark und gefestigt, wie schaffst du das bloß?“ und ich antwortete ihr: „Weil es das jetzt braucht. Ich werde trauern, wenn die Zeit dafür ist. Ich möchte, dass Papa in Frieden und ohne Sorge gehen kann, jetzt gerade geht es nicht um mich.“

Der Tod gehört zum Leben dazu

Der Tod gehört zum Leben dazu und auch heute trauere ich immer wieder über den Tod der Menschen, die ich liebe. Vor allem dann, wenn ich mir zur Weihnachtszeit das erste frisch gebackene Vanillekipferl in den Mund stecke oder im Juni die ersten reifen Erdbeeren ernte und esse. Manchmal rinnt eine Träne meine Wangen hinab, aber der süße Geschmack und die schönen Erinnerungen zaubern mir auch immer ein Lächeln aufs Gesicht.

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Ein Artikel von

Portraitfoto Barbara Rampl

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