Mit Kindern über (Ge)Recht(igkeit) sprechen
Kinder und Jugendliche haben ein ganz eigens Verständnis von Gerechtigkeit. Das, was vor Gericht passiert, steht dem oft entgegen. Eltern müssen vermitteln.
Oft habe ich mit meiner Tochter (15) diskutiert. Oft habe ich ihr von meinem Berufsalltag erzählt, der mich als Journalist immer wieder zu Gerichtsverhandlungen führt. Oft hat sie die Urteile nicht verstanden. Ich habe diese meist verteidigt: Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem es Recht gibt.
Ein Urteil spricht Recht.
Was damit nicht abgedeckt ist: Aspekte wie Vergeltung, Rache, eine Handlung, die der angeklagten Handlungen entspricht. Der Staat versucht nämlich mit Hilfe der Gerichtsbarkeit und der Rechtssprechung so etwas wie ein Gleichgewicht herzustellen: Nicht zwischen Tat und Strafe, sondern zwischen Tat und Strafmaß.
Das ist, wie ich meiner Tochter stets erkläre, ein großer Fortschritt.
Die Zeiten von „Augen um Auge und Zahn und Zahn“ sind damit vorbei.
Auch werden „Täter“ nicht mehr, wie im Mittelalter, an den Pranger gestellt. Jeder Täter, egal was er getan hat, hat das Recht auf eine Verhandlung und damit auch auf eine Rechtssprechung und ein damit verbundenes Urteil.
Es gilt, Vorsicht walten zu lassen!
Denn wir leben zwar – zum Glück – nicht mehr im Mittelalter, aber es gibt ähnliche Tendenzen. Nämlich Tendenzen der Vergeltung, der Vorverurteilung und vor allem des „Rechts“ außerhalb des Rechtssystems. Der Internet-Mob und auch Teile der Journaille sprechen mittels „Dauerfeuers“, mittels Berichten und mittels Halbwahrheiten dem „Angeklagten“ oftmals schon das Recht ab.
Existenzen sind damit nicht selten ruiniert, noch bevor es zu einem sachlich-klaren-objektiven Gerichtsverfahren kommt. Denn eines ist klar: Alle Tendenzen, die das Rechtssystem unterwandern, in Frage stellen oder gar Alternativ-Strukturen aufbauen, sind problematisch!
Damit muss man auch Kindern und Jugendlichen klar machen, dass es natürlich Emotionen gibt. Gefühle und Empfindungen, dass wir mit so manchem Urteil nicht einverstanden sind.
Es ist natürlich auch so, dass im Laufe der Zeit Strafmaße überdacht und revidiert werden. Keinesfalls ist es so, dass alles überzeitlich wahr und richtig ist. Das Ausmaß der Strafen wird angepasst, neue Entwicklungen berücksichtigt und überhaupt ein oder mehrere gangbare Wege gesucht.
Aber auf gar keinen Fall sollten diese Entscheidungen von Empfindungen geleitet sein!
Nur weil einzelne Menschen das Urteil und Strafmaß der Tat nicht angemessen empfinden, darf das System an sich nicht in Frage gestellt werden!
Das System funktioniert
Unser Rechtssystem funktioniert, wie ich aus vielen Prozesse berichten kann. Keinesfalls wird leichtfertigt agiert, sondern die Faktenlage entscheidet.
Aufgrund dieser Fakten wird versucht, ein adäquates Urteil zu finden.
Das darauf folgende Urteil ist natürlich nicht unfehlbar, aber es wird nach besten Wissen und Gewissen gefällt. Und: Es gibt eine weitere Instanz! Das wäre etwa das Landesgericht oder gar den Obersten Gerichtshof. Wer glaubt, dass das Urteil also nicht „gerecht“ war oder dass einige Aspekte nicht berücksichtig worden sind, dem bleibt noch immer die Möglichkeit, Berufung einzulegen.
Die Mühlen der Justiz mögen in Österreich – und auch anderswo – damit manchmal langsam mahlen. Aber sie tun es! Und dieses gewissenhafte, manchmal allzu gemächliche Mahlen ist tausendmal besser als das laute Schrei(b)en nach einer wie auch immer gearteten Gerechtigkeit!
Denn diese Gerechtigkeit funktioniert nach dem Prinzip der Lautstärke: Derjenige, der am lautesten nach Vergeltung oder nach Strafe schreit, wird am ehesten gehört.
Ruhe bewahren
Vor meiner Tochter plädiere ich deshalb – so schwer es in manchen Fällen und bei manchen Taten auch fällt – für Sachlichkeit, für Ruhe und für Geduld.
Man muss „das System“ arbeiten lassen und diesem vertrauen, auch wenn der eine oder andere Kritikpunkt natürlich erlaubt ist.
Wer das System aber an sich in Frage stellt, der schüttet das Kind mit dem Bade aus.
Hinter diesem Rechtssystem, eine der wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation überhaupt, lauert die Barbarei, das Geschrei, die Lautstärke, die Rachegelüste. Und das kann doch wahrlich niemand wollen.